[erschien als kürzere Fassung in der Ausgabe 2/2013 der Zeitschrift Entscheidung]
»Hin und wieder zurück« – Bilbo Beutlin zieht mit 13 Zwergen und dem Zauberer Gandalf los, um große Abenteuer zu erleben. Der kostbare Schatz der Zwerge soll aus den Fängen des Drachen Smaug entrissen werden. Bilbo, der kleine Hobbit, hat bis zum Beginn der abenteuerlichen Reise im beschaulichen Auenland gelebt, einer friedlichen Gegend in Mittelerde. Der Kontinent Mittelerde, ebenso Schauplatz der »Herr der Ringe«-Abenteuer, existiert nur in der Fiktion. Die Welt Bilbo Beutlins entsprang – zwar maßgeblich inspiriert von Elementen aus der nordischen Mythologie, alten Sagen und auch der Bibel – der Fantasie eines einzigen berühmten Mannes: John Ronald Reuel Tolkien (1892–1973). Der britische Schriftsteller begründete mit seinen Abenteuern die moderne Fantasy-Literatur. Er schuf eigene Sprachen, sonderbare Völker, namhafte Helden, originelle Geschichten und – Geschichte.
»Das Silmarillion«, eine Sammlung Tolkiens unvollendeter Werke, enthält die Schöpfungsgeschichte von Tolkiens Welt, mythologische Erzählungen und einen Gott, der das Fantasy-Universums Tolkiens geschaffen habe: Das Silmarillion beginnt mit dem Satz »Eru war da, der Eine«.
Ein anderes Epos enthält diese Worte:
»Rohrhütte! Rohrhütte! Wand! Wand! Höre, o Rohrhütte! Halle wider, o Wand!
Du Mensch aus Schuruppak, Sohn des Ubara-Tutu!
Reiß nieder dein Haus, bau dir ein Schiff!
Laß fahren all deine Habe, dein Leben suche zu retten!
Schwör ab dem Besitz und gewinne das Leben!
Nimm allerlei lebend'gen Samen in dein Schiff hinein!«
[Hermann Ranke: Das Gilgamesch-Epos, 2006, S. 84]
Ein Gott beauftragt Utnapischtim, an den diese Worte gerichtet sind, zu einem Abenteuer, größer als das des kleinen Hobbits: Utnapischtim soll mit einer schwimmenden Arche Menschen und Tiere vor einer Flut retten, die von den Göttern geschickt wird, um die Menschheit auszulöschen.
Die Erzählung aus dem mesopotamischen Gilgamesch-Epos gilt vielen als eine der ältesten Fantasy-Geschichten der Welt. Aus den altbabylonischen Mythen sollen auch die Erzählungen stammen, die heute für gläubige Menschen eine besondere Bedeutung haben: die ersten Kapitel der Bibel.
Noah, so ist Utnapischtim in der Bibel bekannt, und Bilbo Beutlin, der Held von Mittelerde – zwei Gestalten, deren Abenteuer auch Hollywood interessieren. Zwei weitere Filme der Hobbit-Trilogie werden dem ersten Teil folgen, »Noah« kommt 2014 ins Kino. Peter Jackson und Darren Aronofsky sind bekannte Regisseure, Stars wie Martin Freeman und Russell Crowe spielen die Hauptrollen. Fantastische Geschichten als unterhaltsamer Stoff fürs Kino. Rein fiktive Filmfiguren?
»Geschichte wurde zur Legende, Legende wurde Mythos und zweieinhalbtausend Jahre lang wusste niemand mehr um den Ring – bis er sich eines Tages einen neuen Träger suchte.« – Dieser Ausspruch aus der erfundenen Welt von »Herr der Ringe« scheint in der Wirklichkeit nicht zu gelten. Mythos war niemals Geschichte – kein Historiker, der etwas auf sich hält, nimmt die Mythen unser Vorfahren für bare Münze. Die biblische Urgeschichte wird gerne als frommes Märchen betrachtet, mit allenfalls symbolischer Aussagekraft. Den Werken der antiken Geschichtsschreiber geht es kaum anders: auch sie gelten als unzuverlässig.
Wie hat sich die wirkliche Urgeschichte unserer Erde abgespielt? Heutige Altertumsforscher scheinen misstrauische Menschen zu sein. Sie verlassen sich nicht gerne auf ihre antiken Kollegen mit deren Chroniken voller Wunder, Götter, übernatürlicher Gestalten, ausgeschmückten Schilderungen und merkwürdig hoher Jahreszahlen. Historiker rekonstruieren die Vergangenheit am liebsten auf der Grundlage in Stein gemeißelter Bauinschriften und unverdächtiger Alltagskorrespondenz aus alter Zeit.
Überlieferte Historie wird großzügig verworfen:
»Wie in allen Hochkulturen ist auch in Mesopotamien die Erinnerung an die ›Entstehungszeit‹ verloren gegangen und einer Legende gewichen. Eine solche Legende hat sich wohl im Laufe mehrerer Jahrhunderte mündlich gebildet und hat erst gegen Ende des III. Jahrtausend schriftliche Gestalt angenommen.« [Dietz-Otto Edzard: »Geschichte Mesopotamiens«, 2009, S. 38]
Ein besonders schönes historisches Schriftstück ist die sogenannte »Sumerische Königsliste«, die die Herkunft der mesopotamischen Völker beschreibt. Der bedeutende Altorientalist Dietz-Otto Edzard schreibt – unter anderem aufgrund der unwahrscheinlich langen Regierungszeiten der Könige von zigtausend Jahren – ernüchternd: »Der vorsintflutliche Teil ist sekundär in die Liste einbezogen worden […] Die Liste hilft, wie nochmals betont sei, nur wenig beim Schreiben mesopotamischer Geschichte aus unserer heutigen Sicht. Aber sie bleibt ein höchst bedeutendes Dokument für das Geschichtsverständnis in den Jahrhunderten vor und nach der Wende vom III. zum II. Jahrtausend.« [Dietz-Otto Edzard: »Geschichte Mesopotamiens«, 2009, S. 39, S. 41] Sein zusammenfassendes Statement über die antiken mesopotamischen Überlieferungen lautet: »Das Epos ›Gilgamesch und Agga‹ ist ebenso viel oder wenig Geschichte wie das Nibelungenlied oder Beowulf.« [Dietz-Otto Edzard: »Geschichte Mesopotamiens«, 2009, S. 42]
Die Kritik, die heute gegenüber der Bibel vorherrscht, steht also nicht alleine da, anderen historischen Schriften geht es ganz ähnlich. Seien es die mesopotamischen Königslisten und Heldenepen, Josephus, Herodot oder Nennius – ihre Motive werden misstrauisch unter die Lupe genommen, ihre Glaubhaftigkeit und ihre zugrunde liegenden Quellen in Frage gestellt. Dies geschieht nicht aus böser Absicht oder Arroganz, sondern gehört zur wissenschaftlichen Arbeitsmethode aufgeklärten Denkens und Forschens – Edzard spricht von einer »souveränen Überschau«. (S. 40).
Damit wurde das Fundament dessen, was wir heute als »wissenschaftlich gesicherte« Geschichte kennen, hauptsächlich auf archäologischen Funden gegründet. Entsprechend dürftig sind daher die Kenntnisse über Ursprünge und Anfänge, gewissenhafte Historiker geben diese Defizite auch gerne zu. Für die öffentliche Meinung werden diese geschichtlichen Ursprünge allerdings mit einer menschlichen Vorgeschichte kombiniert, die von der Evolutionstheorie geprägt ist. Die Mythen und Legenden unserer Vorfahren seien also in Wirklichkeit durch Jahrhunderttausende und Jahrmillionen hominider Entwicklungsgeschichte zu ersetzen – durch eine zunächst biologische, parallel aber auch kulturelle und religiöse Höherentwicklung der Menschheit. Doch wie stimmig ist dieses »gesicherte« wissenschaftliche Bild?
Immer wieder müssen an der Menschheitsgeschichte leichte Korrekturen vorgenommen werden: Brunnen wurden früher gebaut, Kunstwerke sind älter, Waffensysteme intelligenter … Das Bild vom tumben, behaarten Neandertaler musste inzwischen mehrfach revidiert und modernisiert werden. »Durchaus möglich, dass der Neandertaler, modisch rasiert und frisiert, in unseren Fußgängerzonen nicht weiter auffallen würde.« [Josef Tutsch: »Als die Natur ihre Geschichte erhielt«, 2006, http://www.scienzz.de/magazin/art6981.html, abgerufen am 9.1.2013] Unsere Vorfahren aus der Steinzeit waren alles andere als primitiv.
Kleinere Korrekturen sind in der menschlichen Frühgeschichte also üblich. Und die großen Fragen? Woher kommen Steinwerkzeuge, die viel zu alt für die Menschheit sind? Warum wurden die größten Pyramiden ganz am Anfang der ägyptischen Geschichte gebaut? Woher kommen die mathematisch ausgerichteten Megalithen der europäischen Vorgeschichte? Bestimmt nicht von Außerirdischen, wie der berühmt-berüchtigte Erich von Däniken mutmaßt. Und doch legt er immer wieder den Finger in die wunden Punkte der Archäologie. Mainstream-Wissenschaftler und Medien machen sich lustig über ihn, genau wie so oft über gläubige Bibelforscher. Über die Suche nach dem Paradies schrieb der »Spiegel«:
»Jede Menge Krypto-Wissenschaftler und ›Die Bibel hat doch recht‹-Spinner tummeln sich in der Szene. Unverzagt stöbern sie nach den Planken der Arche Noah. Der Spökenkieker Erich von Däniken hält die Bundeslade für einen Elektroakku.« [Spiegel 23/2006, S. 162, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-47134822.html]
Spott und Hohn gegenüber Querdenkern und mutmaßlichen »Spinnern« sind das Eine. Aber wo sind die fundierten Erklärungen der etablierten Wissenschaft auf von Dänikens Fragen?
Zu den Pyramiden merkt er an: »Aus welcher Zauberwerkstatt stammt denn das Wissen, die Planung, die zum Zuge gekommene Technik des Steinzeitmenschen Snofru?« [Erich von Däniken: »Der Mittelmeerraum und seine mysteriöse Vorzeit«, 2012, S. 132]
Die französische Bretagne mit ihren zahlreichen Megalithen hat es ihm – neben Stonehenge in England – ebenfalls angetan. Auf der Insel Gavrinis existiert gar ein Heiligtum mit massiven Steinplatten. Von Däniken: »Man soll's doch mal versuchen, einen 250-Tonner auf primitive Steinzeitflöße zu verladen! Es gilt die alte Feststellung: Gavrinis entstand, als das Wasser noch nicht da war.« [Erich von Däniken: »Die Steinzeit war ganz anders«, 1991, S. 123]
Ob Malta, Delphi oder Göbekli Tepe – Es gibt zahlreiche Spuren von Schwerstarbeit und hoher Kunstfertigkeit aus der Steinzeit.
»Da existieren allein um den Mittelmeerraum Hunderte von Dolmen und ebenso Hunderte von Steinkreisen, der größte Teil davon astronomisch ausgerichtet. […] unbegreifliche Tatsachen, die in kein Geschichtsbild und in kein Lehrbuch der Archäologie passen.« [Erich von Däniken: »Der Mittelmeerraum und seine mysteriöse Vorzeit«, 2012, S. 68f]
Von Dänikens Erklärungen mögen eigentümlich sein – der Nachweis aber scheint erbracht, dass ferne Urahnen aus der Steinzeit intelligenter und technisch weitaus versierter waren, als dies heute meist angenommen wird. Jagdtechniken, handwerkliches Geschick sowie die Planung und Herstellung großer Monumente – eine Höherentwicklung der Kultur und Intelligenz, wie sie die Entwicklungsgeschichte eigentlich fordert, ist in der Archäologie nicht zu beobachten.
Die Bibel spricht nicht von einer Höherenwicklung, sondern vom Gegenteil: Sündenfall, Zerstreuung, Abstieg und Verlust. Menschen wurden weniger alt, Zivilisationen und technische Errungenschaften blieben auf der Strecke. Ist doch etwas dran an den »Mythen« der Bibel und anderer antiker Quellen? Wurde die Genesis nicht erst während der babylonischen Gefangenschaft im 5. Jahrhundert vor Christus erdichtet und von damals schon unglaubwürdigen Legenden kopiert?
Vieles deutet darauf hin, dass die fünf Mosebücher – der sogenannte Pentateuch – schon viel älter sind. Es wurde sogar vermutet, dass Mose in den ersten Kapiteln der Genesis Tontafel-Dokumente seiner Vorfahren abgeschrieben hat. Waren es wahre Ereignisse, die von den Schreibern der Bibel notiert und im Gilgamesch-Epos literarisch verarbeitet wurden?
In einer Analyse aus dem Jahr 1997 beklagt der Theologe Bernhard Knieß, »daß Wellhausen seine [bibelkritischen] Theorien ohne die Ergebnisse der Archäologie und Altertumswissenschaft quasi am grünen Tisch aufstellte.« [Bernhard Knieß: »Schrieb Mose den Pentateuch«, 1997, http://www.wort-und-wissen.de/disk/d97/3/d97-3.pdf]
Die aktuelle Forschungslage bezeichnet er »chaotisch«, da die wissenschaftliche Diskussion »in ein beinahe unüberschaubares Spektrum derzeitiger Hypothesenbildung bis hin zum radikalen Thesenverzicht mündete.«
Mehrere Argumente sprechen nach Knieß' Ansicht deutlich für die Verfasserschaft Moses: Die »zahlreichen exakten und stets zutreffenden Beschreibungen des Landes Ägypten«, die Beschreibung der Ereignisse während des Exodus »können unmöglich aus der Feder eines Schriftstellers stammen, der die Wüste nicht selbst erlebt hatte.« Knieß schlussfolgert, »daß mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Mose allein die biographischen, literarischen, geistigen und geistlichen Voraussetzungen für seine Autorschaft vereinigt.«
Und für Christen »sollte das Zeugnis Jesu entscheidend sein, die mosaische Verfasserschaft des gesamten Pentateuch zu akzeptieren.«
Wenn nun Mose selbst den Pentateuch geschrieben hat, sind seine Inhalte mindestens 700 Jahre früher schriftlich fixiert worden, als gemeinhin angenommen. Es ist somit eher unwahrscheinlich, dass Mose von babylonischen Quellen wie dem Gilgamesch-Epos abgeschrieben hat. Viel eher gehen Bibel und babylonische Überlieferungen gleichermaßen auf Ereignisse zurück, die tatsächlich stattgefunden haben. Mose, Abraham und Noah sind dann keine fiktiven, sondern wirkliche Persönlichkeiten der Frühgeschichte. Und wenn die Menschheit, wie es die Bibel berichtet, durch die Flut gerichtet und ausgelöscht wurde, dann wäre Noah wahrhaftig der Urahn der gesamten nachsintflutlichen Menschheit.
Für die Sintflut als geschichtliche Tatsache gibt es eine Vielzahl weiterer Belege: Überlieferungen in unterschiedlichen Kulturen Asiens, Amerikas und des Nahen Ostens, außerbiblische Quellen wie die Utnapischtim-Erzählung oder das noch ältere Atrahasis-Epos, die Königsliste, deren Noah-Version »Ziusudra« viel später vom babylonischen Geschichtsschreiber Berossos als » Xisuthros« wiederholt wird – und einige jener antiken Historiker, deren Schriften so gerne in den Bereich der Sagen und Mythen abgeschoben werden.
Eine besonders interessante Bestätigung liefert Bill Cooper in seinem Buch »After the Flood«. Er weist darin unter anderem die Zuverlässigkeit des Historikers Nennius am Ende des 8. Jahrhunderts n. Chr. nach, dem in einer neuen deutsch-lateinischen Ausgabe seiner »Historia Brittonum« unterstellt wird, dass er »versuchte, die eigene Geschichte an die Bibel und die Ereignisse der Antike (Trojanischer Krieg, Gründung Roms) anzuknüpfen.« [Nennius: »Historia Brittonum, 2012, Anmerkungen von Günter Klawes, S. 7]
Vor allem die beschriebenen Wunder und biblischen Zusammenhänge sind dem Kommentator der Nennius-Übersetzung höchst verdächtig: Erstere sieht er als »spätere Zutaten« [S. 8]; dass die »Sintflutsage […] im 6. Jh. v.u.Z. in Mesopotamien in die Bibel übernommen« wurde, sieht er als Tatsache. Ebenso behauptet er: »Wie Abraham verschwindet auch Mose im Nebel der Mythologie« und: »Ein Ablauf der Ereignisse, wie sie die Bibel beschreibt, ist widerlegt.« Zuletzt sieht er in Bezug auf den Archäologen Israel Finkelstein (»Keine Posaunen vor Jericho«) auch die Historizität Davids als »umstritten« an. Erst mit dem babylonischen Herrscher Nebukadnezar »betreten wir sicheren historischen Boden.« [S. 164f]
Alles in allem gilt für Kommentator Günter Klawes, dass die historische Arbeit Nennius' »… ihrer Zeit entsprechend aus biblischen und antiken Elementen zusammengesetzt wurde.« [S. 169]
Ganz anders geht Bill Cooper an Nennius heran:
»Der unermessliche Wert der Arbeit [des Historikers] Nennius und sein Beitrag zu unserem Verständnis antiker Geschichte kann nicht hoch genug bewertet werden. Gleichzeitig wäre es, wenn wir mit der Arbeitsweise der modernen Wissenschaftler nicht vertraut wären, ungemein schwierig, die Ablehnung und Verunglimpfung seines Namens zu verstehen. Seine Leistung war es, alle vorhandenen Überlieferungen über die Ursprünge der Briten zu sammeln, die er finden konnte, und in einem Werk zusammenzufassen.« [Bill Cooper: »After The Flood«, 1995, S. 46]
Nennius habe in einer düsteren Zeit alte Quellen gesammelt und durch originalgetreue Abschriften bewahrt. Auch gewisse Fehler habe er nicht korrigiert, sondern in ihrer Unzulänglichkeiten mitkopiert: »Dies alles belegt, dass Nennius leicht hätte diese Stellen überarbeiten oder korrigieren können, was seine eigene Glaubwürdigkeit erhöht hätte. Aber genau dies ist es, was nun paradoxerweise sein Ansehen als vertrauenswürdiger und zuverlässiger Historiker erhöht und uns die Sicherheit gibt, dass wir diese überaus alten Dokumente genauso lesen, wie sie Nennius gelesen hat.« [S. 50]
Unter den von Nennius gesammelten Werken sei, so Cooper, »eines der wichtigsten Dokumente aus der antiken Welt, die in unseren Besitz kommen konnten. […] Es zeichnet die Abstammung einer beträchtlichen Anzahl der frühen europäischen Nationen auf.« [S. 47f]
Gegenüber den Völkertafeln der Bibel, die schon Flavius Josephus in seinem zur Zeit Jesu entstandenen Geschichtswerk »Jüdische Altertümer« wiedergab und nach damaligen Kenntnisstand erläuterte, habe Nennius Informationen verarbeitet, die weder in der Bibel noch bei Josephus zu finden seien. Bill Cooper schließt daraus, dass Nennius gänzlich unabhängige Quellen hatte, die aber inhaltlich übereinstimmten – aus dem einzigen Grund, weil diese Abstammungslinien, die Cooper in mühevoller Kleinarbeit mit anderen Geschichtsurkunden vergleicht, die tatsächlichen Wurzeln der europäischen Völker wiedergeben.
Trotz mancher offenen Fragen im Detail kann Cooper die Ahnen der europäischen Völker auf Noahs Sohn Japhet zurückführen und bezeugen: »In mehr als 25-jähriger Suche und Analyse konnte ich in der [biblischen] Völkertafel nicht einen Fehler oder eine falsche Wiedergabe der Tatsachen entdecken«. [S. 39]
Nennius hat also keineswegs versucht, die britische Geschichte mit der Bibel zu harmonisieren, sondern er hat die Historie wahrheitsgemäß niedergeschrieben. Die Bibel hat Nennius nicht beeinflusst, sondern gibt den Hergang der Geschichte aus anderer Perspektive übereinstimmend wieder.
Nachdem noch bis ins 19. Jahrhundert hinein die Gelehrten ihre Geschichtsforschung auf der Bibel und den alten Historikern gründeten (wie z.B. die von Siegmund Jakob Baumgarten ab 1744 übersetzte »Allgemeine Weltgeschichte« in 18 dicken Bänden), haben Wellhausens Bibelkritik und Darwins Evolutionstheorie dazu beigetragen, dass der Einfluss dieser Quellen immer mehr zurückging. Später schienen archäologische Entdeckungen und die Entzifferung alter Inschriften die Unzuverlässigkeit der bekannten Schriften zu bestätigen – dies scheint allerdings eher die Auswirkung einer bibelkritisch und entwicklungsgeschichtlich geprägten Interpretation dieser Funde zu sein.
Blendet man die »am grünen Tisch« entworfene Bibelkritik und die Evolutionstheorie mit ihren zahlreichen Schwächen und offenen Fragen jedoch einmal aus, ergibt sich aus den Erkenntnissen der Archäologie, den Zeugnissen der antiken Historiker und im Licht der Bibel ein überraschend stimmiges Bild der Weltgeschichte. Zugegeben, voller Wunder und übernatürlicher Ereignisse – aber sollten wir als Glaubende an einen souverän agierenden Gott das Gegenteil erwarten?
Vielleicht sind manche mythischen Welten und Kreaturen sogar realistischer als heute weitläufig vermutet: In seinem Buch vermutet Bill Cooper, mit einem »Turm aus Glas«, der bei Nennius erwähnt wird, könnte ein Eisberg gemeint sein. Er sieht darin einen Hinweis darauf, dass die Überlieferungen der Menschheit zurückgehen bis in die Eiszeit. Dies würde auch zu von Dänikens Vermutung passen, die Insel Gavrinis sei einst mit dem Festland verbunden gewesen. Moderne Ausleger sehen im »gläsernen Turm« dagegen einen ganz und gar mythologischen Gegenstand, »ein Symbol der Anderswelt in den keltischen Sagen«. [Nennius: »Historia Brittonum«, 2012, S. 178]
Wenn man sich ganz neu auf die Bibel als weltgeschichtliches Zeugnis einlässt, erblickt man ein sehr authentisches und über die Jahrhunderte ganz und gar konsistentes Bild. In dieses von Gottes Existenz bestimmtes Weltbild passen auch Wunder, übernatürliche Erscheinungen und selbst urzeitliche Kreaturen, die nicht mehr in eine Jahrmillionen zurückliegende Vorgeschichte verbannt werden müssen. Der scheußliche Grendel aus dem schon erwähnten angelsächsischen Heldengedicht »Beowulf« und die Drachen aus den Sagen aller Kulturen können dann ebenso real existierende Dinosaurier – »schreckliche Echsen« – gewesen sein, wie möglicherweise die im Buch Hiob erwähnten Geschöpfe Behemot und Leviathan. (Siehe hierzu auch meinen Artikel in der »Entscheidung« 1/2013.)
Tolkiens Hobbits sind einfache Wesen, die zu Ungewöhnlichem fähig sind. Der christliche Schriftsteller hat es verstanden, aus seinen Gedanken und Inspirationen eine literarische Welt zu erschaffen, eine Fantasiewelt, ein fiktives Paralleluniversum. Doch Mittelerde existiert in Wirklichkeit nicht.
Flavius Josephus dagegen führte schon vor 2000 Jahren aus:
»Diejenigen, welche sich der Geschichtschreibung befleißigen, tun dies nicht aus ein und denselben, sondern aus vielfachen, meist unter sich verschiedenen Beweggründen. Denn einige gehen an diese Art Arbeit, um ihre Redegewandtheit leuchten zu lassen und dadurch berühmt zu werden, andere, um denen zu gefallen, über die sie schreiben. Freilich trauen sich diese Letzteren oft mehr zu, als sie vermögen. Wieder andere treibt ein gewisser Zwang, die Ereignisse, deren Zeugen sie waren, schriftlich vor Vergessenheit zu bewahren; viele auch veranlasst die Erhabenheit wichtiger, im Dunkel verborgener Tatsachen, diese zum allgemeinen Besten zu erzählen. Von den genannten Beweggründen sind für mich die zwei letzten in Betracht gekommen.« [Flavius Josephus: »Jüdische Altertümer, Vorwort, Abschnitt 1]
Er sieht sich selbst also offenbar der Wahrheit verpflichtet. Auch Nennius wollte trotz seiner »minderen Begabung und ungebildeten Sprache« durch seinen »heilsamen Trunk des Beweises« dazu beitragen, dass die Taten und Ereignisse der Vergangenheit der »Erinnerung der Nachgeborenen« überliefert würden.
Die antiken Historiker hielten also fest, was geschehen war. Wohl interpretierten einige von ihnen diese Geschehnisse, verfälschten sie, schmückten sie vielleicht aus, brachten ihre religiösen Vorstellungen hinein. Doch sie erfanden nicht grundlegend Neues, um es als Geschichte zu vermarkten.
Noah hat wirklich gelebt, die Bibel berichtet sachlich und ungeschönt von ihm. Das Gilgamesch-Epos hat die Ereignisse verfärbt und in einen polytheistischen Kontext gestellt, ist aber doch im Kern wahr. Die Ausbreitung der Kulturen und Zivilisationen geht von Südostanatolien aus – ausgerechnet dort befindet sich der Berg Cudi, auf dem möglicherweise die Arche gelandet ist. (Siehe hierzu auch meinen Artikel in der »Entscheidung« 6/2011 oder auf www.noahs-berg.de.) Die Völkertafel der Bibel zeigt, erläutert von späteren Geschichtsschreibern, wie sich die Nationen nach der Flut ausgebreitet haben. Die ersten Generationen erreichten ein hohes Lebensalter, vielleicht wurden sie deshalb – wie Utnapischtim oder auch Nimrod – für unsterblich gehalten oder zu Göttern erklärt. Eine biblisch orientierte Geschichtsforschung bietet auch in unserer aufgeklärten Zeit faszinierende Perspektiven – auch wenn viele Fragen vorerst offen bleiben. Aber offene Fragen gibt es auch in der traditionellen Forschung in Hülle und Fülle.
Timo Roller