Ein rätselhaftes Relief im Südosten der Türkei könnte der älteste archäologische Hinweis auf ein traditionsreiches Pilgertum zum Landeberg der Arche Noah sein. Schon Noahs Zeitgenossen machten sich offenbar dorthin auf.
In den vergangenen 150 Jahren unternahmen Abenteurer und Forscher immer wieder Expeditionen zum Berg Ararat, sie sichteten angeblich Holzsplitter, Balken und ganze Stallungen im Gletschereis. Beweisen konnten sie nichts davon. In früherer Zeit deutet wenig auf eine besondere Bedeutung dieses Berges hin, den die Einheimischen »Agri Dagh« oder »Masis« nennen.
300 Kilometer südwestlich des berühmten »Ararat« hat das 2.100 Meter hohe Cudi-Gebirge eine sehr viel reichhaltigere Arche-Noah-Tradition vorzuweisen: Frühchristliche Überlieferungen, der jüdische Geschichtsschreiber Josephus sowie der Koran verweisen auf diese Region, die ebenfalls zu den »Bergen von Ararat« gehört – aus der Archäologie als Bergland »Urartu« bekannt. Der Babylonier Berossos schrieb um 300 v. Chr.: »Es heißt, dass noch jetzt in Armenien auf dem Kordyäergebirge ein Teil jenes Fahrzeuges vorhanden sei, und dass manche Harz davon entnehmen, um sich desselben als Zaubermittel gegen drohende Übel zu bedienen.« In der Antike soll es also noch Überreste der Arche gegeben haben und seit Jahrtausenden sind Menschen unterwegs als Pilger zum Cudi Dagh: einfache Menschen, Priester und einst sogar Könige.
Heutzutage besuchen nur selten Fremde die Provinz Şirnak, in deren Mitte sich der Berg befindet: Der anhaltende Konflikt zwischen der türkischen Armee und den militanten Gruppierungen der kurdischen Arbeiterpartei PKK hat im Südosten der Türkei seinen Brennpunkt.
Einheimische sind aber 2013 wieder auf den Gipfel gelangt, zum ersten Mal seit Jahrzehnten, in denen das Gebirge militärisches Sperrgebiet war. Als Muslime haben sie am »Landeplatz« gebetet, denn im Islam gilt Noah als Prophet und der Koran gibt kund: »Und das Schiff saß auf dem Berg Cudi auf.« (Sure 11,44)
Noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts gab es einmal im Jahr ein religionsübergreifendes Pilgerfest auf dem Berg, eine »alte Sitte der Umwohnenden, Moslems und Christen, jedes Jahr auf dem Gipfel gemeinsam der Sintflut zu gedenken«.
Zerfallene Moscheen zeugen von einer langen muslimischen Verehrung auf dem Berg, nachdem ein christliches Kloster im Jahr 776 einer Brandkatastrophe zum Opfer gefallen war. Der Heilige Jakob, Bischof von Nisibis, hatte schon etwa 330 eine Kirche zu Ehren der Arche Noah gebaut.
Von diesem Heiligen hat vor 180 Jahren Friedrich Parrot berichtet, der Erstbesteiger des Ararat im Norden. Jakob von Nisibis habe von der Suche nach der Arche Noah ein Holzstück des biblischen Schiffes mitgebracht. Tatsächlich wird in einem armenischen Kloster, 50 Kilometer vom Ararat entfernt, ein Stück Holz als Reliquie der Arche aufbewahrt. Historische Quellen belegen allerdings eindeutig, dass der Geistliche am Berg Cudi war, nur 120 Kilometer von seinem Bischofssitz entfernt. Auch in der Nähe von Nisibis gibt es ein Kloster mit einem angeblichen Balken der Arche. Er ist bis heute zu sehen. Wissenschaftler haben ihn aber nie untersucht.
Der Geschichtsschreiber Flavius Josephus berichtet in den »Jüdischen Altertümern« mehrmals von zu seiner Zeit noch existierenden Überresten der Arche und verweist dabei unter anderem auf Berossos, den schon erwähnten babylonischen Priester. Nicht nur Christen, Juden und Muslime hatten also ein Interesse an der Arche, sondern auch die Bewohner Mesopotamiens.
Aus der Zeit um 700 v. Chr. berichtet die Bibel vom Tod des assyrischen Königs Sanherib: »Es begab sich aber, als er anbetete im Hause Nisrochs, seines Gottes, erschlugen ihn seine Söhne Adrammelech und Sarezer mit dem Schwert, und sie flohen ins Land Ararat.« (2. Könige 19,36-37). Eine jüdische Überlieferung erklärt, dass Sanherib eine Holzplanke fand, die er dann als Götzenbild verehrte, da sie ein Teil der Arche gewesen sei. Der amerikanische Forscher und Bibellehrer Gordon Franz hat vorgeschlagen, dass »Nisroch« mit der aramäischen Bezeichnung für »Holzplanke« gleichzusetzen sei. An Glaubwürdigkeit gewinnt dieses Szenario dadurch, dass Sanheribs fünfter Feldzug ihn in der Tat zum Arche-Berg Cudi führte, wo mehrere in den Fels gearbeitete Reliefs die Anwesenheit des Königs bezeugen. Der berühmte Assyrologe Leonard William King (1869–1919) hat diese Reliefs Anfang des 20. Jahrhunderts dokumentiert. Das steinerne Vermächtnis eines betenden Königs am Arche-Berg und eine nach Ninive transportierte und dort verehrte Holzplanke: Sanherib war offenbar ein Arche-Noah-Pilger.
Das amerikanische Magazin »Biblical Archaeology Review« hat vor Kurzem das eingangs erwähnte Relief eines bisher nicht identifizierten Herrschers veröffentlicht. Das Bildnis war lange Zeit unbekannt und es gab nur wenige Informationen darüber.
Zur Frage nach der Identität des in Stein gemeißelten »Pilgers« äußert sich Alan Millard, ein Experte für altorientalische Sprachen: Da die abgebildete Person keine Kopfbedeckung trage, wie es von einem assyrischen König zu erwarten wäre, könne es sich eher um einen mächtigen Präfekten handeln wie Shamshi-Ilu, der von etwa 780 bis 745 vor Christus über ein großes Gebiet in Nordsyrien herrschte. Vielleicht war es aber auch doch ein König, denn er trägt ein Zepter in der linken Hand. Oder aber ein Lokalfürst, der den Reliefstil der mächtigen Assyrer nur imitierte?
Die Darstellung des Herrschers ist stilistisch einzigartig, doch es bleiben nur Mutmaßungen, wer es hat anfertigen lassen: Sargon II. (Vater Sanheribs), Salmanassar III. (9. Jh. v. Chr.) und Tukulti-Ninurta I. (12. oder 13. Jh. v. Chr.) wurden von weiteren Forschern in Erwägung gezogen. Das Relief ist – so rätselhaft es vorerst bleibt – vielleicht Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte älter als diejenigen Sanheribs.
Ist es denkbar, dass die Geschichte von Noah und der Sintflut viel mehr ist als nur ein Mythos? Das babylonische Gilgamesch-Epos und viele weitere Keilschrifttexte bestätigen auf zum Teil überraschende Weise die biblische Überlieferung. Könnte das so früh bezeugte und über die Jahrhunderte verfestigte Pilgertum zum Berg Cudi ein wichtiger Hinweis darauf sein, dass die zugrundeliegenden Ereignisse wirklich stattgefunden haben? Dass es die Arche – wie von Josephus so nachdrücklich betont – tatsächlich gab? Dass die Autoren der Bibel keine babylonischen Legenden abgeschrieben haben, sondern die gemeinsame Vorgeschichte festhielten?
Offensichtlich beruht auch das berühmte Gilgamesch-Epos auf der Geschichte einer Pilgerreise: zu Noah selbst, der für König Gilgamesch von Uruk (im Irak) das Geheimnis der Unsterblichkeit lüften soll. Die Bibel berichtet von hohen Lebensaltern der ersten Menschen nach der Flut, Noah wurde 950 Jahre alt. Naheliegend für die nachfolgenden Generationen, an Unsterblichkeit zu denken.
Sehr alte Fragmente, auf denen die Gilgamesch-Erzählung basiert, deuten darauf hin, dass die Suche nach der Arche ins Land »Aratta« führte. Dies ist möglicherweise identisch mit dem Gebirgsland Urartu, dem biblischen Ararat, dessen erste Erhebung nördlich von Mesopotamien die Cudi-Gebirgskette ist. Im Epos »Enmerkar und der Lord von Aratta« geht es um einen Wettstreit eines noch früheren Herrschers von Uruk mit diesem Land Aratta. Einige Forscher setzen Enmerkar mit dem Gewaltherrscher Nimrod gleich, der laut 1. Mose 10,10 Gründer von Uruk war. Und so befinden wir uns in einer Zeit der frühen nachsintflutlichen Geschichte, und vielleicht mehr, als man zu hoffen wagt, auf historischem Boden.
Timo Roller, (Link zum Originalartikel, erschienen am 5.1.2015: »pro« Christliches Medienmagazin)