Die Türkei, NATO-Partner, möglicher EU-Beitrittskandidat und Angela Merkels Hoffnungsträger zur Lösung der Flüchtlingskrüse, genießt seltsame Freiheiten. In der für Bibelforscher hochinteressanten Region um die Stadt Cizre führt das Militär Krieg gegen Kurden.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Zeitschrift Factum, dem christlichen Magazin zum besseren Verständnis unserer Zeit. Gegenüber der Veröffentlichung in Ausgabe 2/2016 ist diese Version des Artikels leicht überarbeitet und aktualisiert worden. Das Magazin Factum möchte ich jedem sehr empfehlen, der sich für Wissenschaft, Glaube und Zeitgeschehen von einem christlichen-biblischen Standpunkt aus interessiert.
Die Stadt Cizre hat in den letzten Monaten eine traurige Bekanntheit erlangt: Wochenlange Ausgangssperren wurden dort verhängt, im fernen Südosten der Türkei. Familien müssen in ihren Häusern bleiben, draußen schießen Panzer und Scharfschützen. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln ist für die Bewohner problematisch, Kranke und Verletzte haben es besonders schwer. Es wird berichtet, dass tote Tiere und Leichen auf der Straße liegen, dass ein totes Kind gar bis zu einer möglichen Bestattung in der Tiefkühltruhe aufbewahrt werden musste.
Das türkische Militär geht gegen kurdische PKK-Kämpfer vor, der Waffenstillstand und friedliche Ambitionen politischer Parteien liegen in Schutt und Asche – ebenso wie viele Häuser in Cizre.
Anfang März 2016 ist von Rückkehr die Rede, von »Rückkehr in ein Trümmerfeld«. Die türkische Seite meldet »600 getötete Terroristen«, die kurdische Partei HDP hingegen, spricht von »166 Toten«. Über zwei Monate herrschte in Cizre und in anderen kurdischen Städten eine vollständige Ausgangssperre. Nun wurde sie teilweise gelockert und die Menschen dürfen tagsüber die Häuser wieder verlassen.
Im September 2013 war ich dort. In einer Region, die es verdient hätte, wieder mehr in den Fokus von Bibelgelehrten zu rücken. Denn in Cizre gibt es eine Sehenswürdigkeit, von der nur wenige Christen wissen: »Noahs Grab«. Natürlich ist es mehr als fragwürdig, ob die Begräbnisstätte authentisch ist. Doch der Berg Cudi, der sich hinter der Stadt Cizre erhebt, ist nach muslimischer Tradition der Landeplatz der Arche. Nach meiner Überzeugung war in vergangenen Jahrhunderten auch unter Christen und Juden dieses Gebirge als biblisches Gebirge »Ararat« bekannt. Lange bevor sich Bergsteiger und Arche-Suchmannschaften auf den Großen Ararat – unter Einheimischen eigentlich als »Agri Dagh« bekannt – konzentrieren, waren sich der jüdische Geschichtsschreiber Josephus und nestorianische Christen sicher: Der Archeberg ist direkt hier, an der Grenze des Berglandes Ararat (assyrisch: »Urartu«) zur mesopotamischen Ebene!
In der Umgebung von Haran, Abrahams Zwischenstation auf dem Weg nach Kanaan, befinden sich Stätten, die ihre Namen von den Vorfahren des Patriarchen haben: Nahor, Serug, Terach. Auch eine andere muslimische Überlieferung ist vielleicht wahr: Abrahams Ur könnte im türkischen Urfa liegen, nicht im südirakischen »Ur«. Bevor sich der Islam ausbreitete, war die Gegend seit frühesten Zeiten christlich: Urfa hieß Edessa und war ein kleines Königreich – König Abgar VIII. (177–212) war wahrscheinlich der erste christliche König der Geschichte. Das nahegelegene Nisibis war Sitz einflussreicher Bischöfe.
Heute gilt Urfa als Brückenkopf des Islamischen Staates in die Türkei hinein, im Juli 2015 riss ein Selbstmordattentäter in Suruç (»Serug«) 33 Menschen in den Tod. Nusaybin (Nisibis) sowie Cizre und Silopi am Fuße des Archebergs Cudi sind ebenso wie die Kurdenmetropole Diyarbakir von Kämpfen und Ausgangssperren betroffen. Unheiliges Land.
Im Nachhinein empfinde ich meinen Besuch damals in Cizre und in der Provinzhauptstadt Sirnak als eine einzigartige Möglichkeit. Schon seit Anfang der 1990er Jahren, als die meisten Christen aus dem Südosten der Türkei vertrieben wurden, kam die Gegend nicht zur Ruhe. Gerade in den unübersichtlichen Tälern und Höhlen des Cudi-Gebirges verschanzten sich Guerilla-Kämpfer und wurden von der Armee beschossen. Bis Anfang des Jahres 2013 schien es mir ziemlich hoffnungslos, diese Gegend zu besuchen, um mich vor Ort über die Arche-Traditionen zu erkundigen, auf die ich wenige Jahre bei Recherchen zu einem Buch gestoßen war.
Und dann kamen sechs Monate, die Hoffnung weckten: Ein Waffenstillstand zwischen den Terror-Milizen und dem Militär, dann die Ankündigung eines wissenschaftlichen Kongresses an der Universität Sirnak zum Thema: »Noah und das Cudi-Gebirge«. Ich bewarb mich mit einem Beitrag über deutsche Expeditionen zu diesem Berg in den vergangenen Jahrzehnten und wurde als Referent eingeladen. Der Landeanflug zum Flughafen von Sirnak am 25. September 2013 war traumhaft, der Pilot flog eine Schleife vor den Cudi-Bergen, direkt über Cizre und das Tigristal. Im Hotel bekam ich ein Zimmer mit Bergblick im neunten Stock.
Das »Grab Noahs« in Cizre besteht aus einem würfelförmigen Gebäude mit spitzem Dach, es enthält einen riesigen Sarkophag. Mein Begleiter erklärte, dass dies ein relativ neues Gebäude sei und der Vorgängerbau in den 1990er-Jahren zerstört wurde. Dabei sei das Grab von Noahs Frau geöffnet und die Leiche entfernt worden. Diese sei noch mit intakter Haut erhalten geblieben, mein Begleiter habe sie selbst gesehen. Die Größe des Sargs Noahs erklärte er damit, dass in der Cizre-Gegend die Propheten so groß geworden seien. Ob er sicher sei, dass da drin Noah liegt? »Ihr aus dem Westen wollt es immer ganz genau wissen, oder?« Ja, er sei sicher … Orientalische Legenden, die aber in diesem Fall wohl zumindest darin ein Körnchen Wahrheit enthalten, dass Noah und die Arche hier seit sehr langer Zeit in der Tradition verankert sind.
Nachdem wir noch dem Gebet eines alten Moslems gelauscht hatten, verließen wir das Grab und besuchten ein kleines Museum mit einem bunten Sammelsurium an archäologischen Fundstücken. Danach ging es ins antike Zentrum Cizres direkt am Ufer des Tigris. Nachdem das Militär in jüngster Vergangenheit seinen Standort an dieser Stelle verlassen hatte, fanden nun Ausgrabungen und Restaurierungsarbeiten statt.
Auf dem Rückweg nach Sirnak machten wir Stopp am Canyon von Kasrik: Vertikal aufgefaltete Sedimentschichten geben hier einen Eindruck von der unvorstellbaren Macht geologischer Vorgänge. Ruinen und ein interessantes Felsrelief vervollständigten die Faszination dieses Durchgangs zwischen dem Cudi-Massiv und den benachbarten Gabar-Bergen.
Das zweitägige Symposium mit Beiträgen über Geschichte, Archäologie und Geologie der Cudi-Gegend sowie über islamtheologische Gedanken zur Noah-Geschichte endete mit zuversichtlichen Erklärungen der Universitätsleitung sowie lokaler Politiker: Man wolle archäologische Forschungen am Berg vorantreiben und die recht arme Gegend touristisch entwickeln. Von einer Seilbahn auf den Cudi-Gipfel war die Rede – an Ideen für die Zukunft fehlte es nicht. Und auch die Aussichten auf den nächsten Tag waren sehr hoffnungsvoll: Wir Kongressteilnehmer sollten uns einen eigenen Eindruck vom Berg Cudi machen können und mit dem Hubschrauber auf den Gipfel geflogen werden. Doch dann kam alles ganz anders.
Der Landeplatz der Arche Noah lag 17 Kilometer von mir entfernt, als ich am frühen Morgen des 29. September aus dem Fenster meines Hotelzimmers blickte. Beim Frühstück gab es »Bad News«: Es würde keinen Besuch auf dem Gipfel geben! Bald stellte sich heraus, dass eine kurdische Demonstration das Militär dazu bewogen hatte, die Umgebung des Cudi-Gebirges abzusperren. Uns Ausländer wollte man möglichst schnell aus der Region schaffen und so saßen wir bald im Taxi nach Urfa. Statt interessante Orte am Berg Cudi zu entdecken, besuchten ich zusammen mit amerikanischen Freunden dann immerhin noch Abrahams Haran, das älteste Heiligtum der Menschheit (»Göbekli Tepe«) sowie die Sehenswürdigkeiten von Urfa selber.
Die Situation im Südosten verschlechterte sich in den Monaten nach meiner Reise, eine geplante Gruppenreise wurde nach schlechter Nachrichtenlage des Auswärtigen Amtes frühzeitig abgesagt. Seit Sommer 2015 gibt es nun immer wieder Ausgangssperren und Gefechte.
Aus den Medien hört man vereinzelt über die Situation vor Ort, Kurden, die in Deutschland leben, berichten von der schwierigen Lage. Kritischen Journalisten droht in der Türkei Gefängnis, die Unterscheidung zwischen Terroristen und Patrioten ist oft nicht leicht. Eine Kurdin aus Süddeutschland musste während einer Hilfsaktion im Krisengebiet die Flucht ergreifen: »Auf dem raschen Weg in unsere Unterkunft plötzlich ein stechender Schmerz in Augen und Lunge. Wir sind in eine Tränengaswolke geraten. Die Augen brennen, eine Stichflamme scheint in den offenen Körper zu fahren. In Ilknurs Wohnung dann ein Moment der Ruhe am Fenster. Über den Bergen bricht für einen Augenblick die untergehende Sonne durch die Regenwolken. Das führt, normalerweise, zu einem Regenbogen. Auch ich warte in Noahs Stadt auf dieses Zeichen, das Gott, wie es geschrieben steht, den Menschen einst zum neuen Bündnis gesendet hatte. Aber nichts. Kein Regenbogen über Kurdistan.«
Auch die kurzen Nachrichten meines Begleiters von damals sind deprimierend: Er schrieb am 29. Dezember 2015: »Es ist eine Katastrophe hier bei uns, seit 16 Tagen dürfen wir nicht nach draußen gehen. Mindestens 25 Zivilisten wurden getötet. In der Stadt ist ein Panzer, der viele Häuser zerbombt. Es ist wie in Syrien.« und »Kranke Leute dürfen nicht ins Krankenhaus. Alle Schulen sind geschlossen. In Silopi liegt eine Frau seit sieben Tagen auf der Straße, niemand darf sie dort wegholen.« Ein Foto zeigt den vermummten Söldner einer türkischen Privatarmee, der auf in einem Klassenzimmer auf die Tafel geschrieben hat: »Jetzt sind wir für die Bildung zuständig«. Daneben rußgeschwärzte Trümmer. Anderswo steht an der Wand: »Bringt den Kindern erst einmal bei, Türken zu sein, bevor ihr sie Lesen und Schreiben lehrt.«
Sicher ist es schwierig, die Lage neutral einzuschätzen. Die gewaltbereiten Gruppierungen der PKK haben breite Unterstützung in der kurdischen Bevölkerung. Erdogan sprach davon, den Südosten von allen Terroristen säubern zu wollen. Für die eine Seite sind die Toten Terroristen, für die anderen Zivilisten.
Im Nahen Osten ist es kaum möglich, zwischen »Guten« und »Bösen« zu unterscheiden: Die Westmächte unterstützen die Kurden im Irak und in Syrien im Kampf gegen den »Islamischen Staat«. Gleichzeitig sind sie viel zu zurückhaltend gegenüber der türkischen Regierung, die die Kurden im eigenen Land bekämpft und mehr oder weniger diskret mit dem »islamischen Staat« sympathisiert. Der Nato-Partner und mögliche EU-Beitrittskandidat genießt seltsame Freiheiten, die Konfliktparteien haben undurchschaubare Interessen. Vielleicht ist die Analyse des Schriftstellers Leon Uris nicht allzuweit von der Wahrheit entfernt. Er schrieb schon 1964 in seinem Roman »Haddsch«: »So hatte ich […] die Grundlage des arabischen Lebens gelernt. Sie lautete: Ich gegen meinen Bruder; ich und mein Bruder gegen unseren Vater; meine Familie gegen meine Vettern und die Sippe; die Sippe gegen den Stamm; der Stamm gegen die Welt. Und wir alle gegen die Ungläubigen.«
Kürzlich wurde die Bürgermeisterin von Cizre ihres Amtes enthoben. Leyla Imret ist in Deutschland aufgewachsen und kehrte 2008 nach »Kurdistan« zurück. Mit 26 Jahren wurde sie im März 2014 zur Co-Bürgermeisterin gewählt. Nach ihrer Amtsenthebung hatte ich kurz Kontakt mit ihr, sie schrieb: »Ich bin noch in Cizre. Hoffe, dass sich die Lage verbessert.«
Die Lage hat sich verschlimmert. Sie wurde vorübergehend verhaftet, viele demokratisch gewählte Bürgermeister sitzen in türkischen Gefängnissen. Im Schatten der Migrationskrise ignoriert Europa die Menschenrechtssituation in der Türkei und den Krieg gegen die Kurden, kritisiert die Menschenrechtlerin Emma Sinclair-Webb.
In einem Interview zitierte Leyla Imret ein altes kurdisches Sprichwort: »Wenn es Frieden gibt, beginnt er in Cizre. Und wenn es Krieg gibt, beginnt der auch hier.« Genau hier, wo offenbar die Menschheit nach der Sintflut neu begann und wo Islam, Judentum und Christentum auf ihren gemeinsamen Heiligen blicken, auf den Vorfahren aller Menschen, wäre genau der richtige Ort für den Beginn eines Friedens unter Gottes Bundeszeichen. Aber ein Regenbogen ist nirgends zu sehen.