Luther-Bibel, Turmbau und der Osten

Wie sich die Marschrichtung der Turmbauer um 180 Grad dreht

28.10.2016

(Bibelverse ohne besondere Kennzeichnung nach Luther 2017)

Bisher hieß es in der Luther-Bibel in Genesis 11,2: »Als sie nun nach Osten zogen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst.«

Jetzt ist die neue Ausgabe der Luther-Übersetzung zum Reformationsjubiläum erschienen, deren Text nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen überarbeitet wurde. Darin steht nun: »Als sie nun von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst.«

Die späteren Turmbauer reisen also offensichtlich von Osten nach Westen, zuvor gingen sie in die entgegengesetzte Richtung.

Wie erklärt sich dieser Widerspruch – und was ist richtig?

Ein Blick in andere Bibelausgaben hilft nicht weiter: In der Schlachter-Übersetzung heißt es: »als sie nach Osten zogen«, Elberfelder gibt wieder: »als sie von Osten aufbrachen«. Beides etablierte Bibeln, die als sehr wortgetreu bekannt sind.

Die Landkarte lässt den Bibelleser ebenfalls ratlos zurück: Es ist anzunehmen, dass der Turm wenige Generationen nach der Sintflut erbaut wurde, laut Flavius Josephus war Nimrod in diese Auflehnung gegen Gott involviert. In Genesis 10,8-10 ist er als Gründer der Stadt Babel erwähnt. Allem Anschein nach beginnen sich die Nachkommen Noahs zu dieser Zeit gerade erst auszubreiten, Ausgangspunkt dürfte der Landeplatzes der Arche gewesen sein, wo die Menschen wohl zunächst gesiedelt haben.

Der Berg Ararat befindet sich allerdings sehr genau im Norden Babels bzw. des Landes Schinar, das mit Sumer gleichzusetzen ist. Hier war die Wiege des Städtebaus und der Zivilisation. Der von mir bevorzugte Arche-Berg Cudi in den »Bergen von Ararat« liegt nordnordwestlich der Geschehnisse rund um den Turmbau. Daher wäre die Wanderung der ersten Menschen von Norden nach Süden gewesen – und weder aus dem Osten noch in den Osten.

Der Arche-Forscher B.J. Corbin hat sich durch die geografische Angabe in Genesis 11,2 veranlasst gesehen, den Landeplatz der Arche im Osten Babylonies zu suchen und hält den Berg Alvand im Nordwesten des Iran für den wahren Berg, auf dem die Arche zu suchen sei (»Seven Mountains To Aratta«, 2015). Aus historischer Sicht sprechen kaum Argumente für diese Theorie.

Ein Blick in den hebräischen Text

Es hilft also nur weiter, in den hebräischen Grundtext zu sehen. Dort steht das Wort »qedem« (קדם), vorangestellt ist die Präposition »mi-« (מ). »mi-qedem« wird unterschiedlich übersetzt, gerade in der Genesis kommt das Wort sechsmal vor, es wird wiedergegeben mit »im Osten«, »aus dem Osten« oder auch »ostwärts«. Der genaue geografische Bezug ergibt sich aus dem Kontext, doch meist hat die Präposition »min« bzw. das verkürzte »mi-« die Bedeutung: »von«.

In Genesis 2,8 findet sich das Wort mit Präposition – »mi-qedem« – zum ersten Mal: »Und der HERR pflanzte einen Garten in Eden gen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte«.

Zweimal kommt der Ausdruck in Genesis 12,8 vor: »Danach brach er von dort auf ins Gebirge östlich von Bethel und schlug sein Zelt auf, sodass er Bethel im Westen und Ai im Osten hatte, und baute dort dem HERRN einen Altar und rief den Namen des HERRN an«.

Wie auch in der Turmbau-Bibelstelle geht es in Genesis 13,11 um eine Reise: »Da erwählte sich Lot die ganze Gegend am Jordan und zog nach Osten«.

Es ist also leicht zu erkennen, dass sich die Bedeutung aus dem (geografischen und textlichen) Zusammenhang ergibt. Bei Lot befinden wir uns auf geografisch bekanntem Terrain.

Nun hat aber das Wort »qedem« nicht nur eine geografische Bedeutung. Es kann auch einen relativen Ort oder sogar eine Zeitangabe repräsentieren. Während Elberfelder »mi-qedem« in Genesis 3,24 so übersetzt: »Und er trieb den Menschen aus und ließ östlich vom Garten Eden die Cherubim sich lagern und die Flamme des zuckenden Schwertes, den Weg zum Baum des Lebens zu bewachen.« – heißt es in der Lutherübersetzung schlicht: »Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens.«

In anderen alttestamentlichen Büchern bekommt »mi-qedem« eine zeitliche Dimension. So heißt es in Psalm 74,12: »Gott ist ja mein König von alters her«, oder der bekannte Vers aus Micha 5,1: »Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Tausenden in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist«. (Luther 2017 hat nun »Tausenden in Juda« statt »Städten in Juda«!)

Den Ursprung in der Ewigkeit betont Habakuk 1,12 noch deutlicher: »Aber du, HERR, bist du nicht mein Gott, mein Heiliger, von Ewigkeit her?« Auch hier findet sich der Ausdruck »mi-qedem«.

Nun wird also klar, dass die Übersetzung von »mi-qedem« umso schwieriger ist, je weiter wir uns von vertrautem geografischen und historischen Kontext entfernen. »qedem« kann »Osten« bedeuten, aber auch »Vorderseite«, »vorne«, »Vorzeit«, »Urzeit« oder »von alters her«. Auch die Präposition »mi-« ergibt sich eindeutig erst aus dem inhaltlichen Zusammenhang.

In der deutschen Sprache war es früher üblich, die Himmelsrichtungen nach dem Lauf der Sonne anzugeben: Man sprach von Morgen (Osten), Mittag (Süden), Abend (Westen) und Mitternacht (Norden, wo nie die Sonne steht). Noch bis zur Luther-Ausgabe aus dem Jahr 1912 wird Genesis 11,2 so wiedergegeben: »Da sie nun zogen gen Morgen, fanden sie ein ebenes Land im Lande Sinear, und wohnten daselbst.« Die Himmelsrichtungen waren ursprünglich Synonyme für den Ablauf des Tages, den Verlauf der Zeit. Der Osten, der Morgen deutet auf den Sonnenaufgang hin, auf den Anfang, den Anbeginn. Hier spiegelt sich der ursprüngliche hebräische Ausdruck »qedem« noch bildhaft wider.

Auch in dem Vers über die Lage des Paradieses kommt die Mehrdeutigkeit zum Vorschein: Während bereits die Septuaginta den Ausdruck »mi-qedem« räumlich wiedergibt (»im Osten«), verstehen die griechische Übersetzung von Aquila und die lateinische von Hieronymus den Begriff zeitlich (»von Anfang an«). Obwohl alle deutschen Übersetzungen die räumliche Interpretation der Septuaginta übernommen haben, gibt es Theologen, die eine Übersetzung mit »Vorzeit« nicht nur für möglich halten, »sondern sie ist an dieser Stelle vorzuziehen«. (Katrin Keita: »Auf der Suche nach Eden« in »Arbeitshilfe zum Weitergeben«, 3/2009)

Die Elberfelder Studienbibel bietet in der Fußnote zu Genesis 11,2 eine Alternative an zu »von Osten aufbrachen«. Es könne hier auch übersetzt werden: »in der Urzeit umherzogen«.

Bibelübersetzer haben womöglich die geografische Situation zum Anlass genommen, »in den Osten« zu übersetzen (wie auch in Genesis 3,11), da eine mögliche Reiseroute vom »Land Ararat« (dem antiken »Urartu«) entlang des Euphrats immerhin südöstlich verlaufen wäre. Auch wenn diese Übersetzung aufgrund der Präposition sprachlich weniger wahrscheinlich ist, sind diejenigen Übersetzungen, die sich mehr der historischen Glaubwürdigkeit als der sprachlichen Genauigkeit verpflichtet fühlen, wohl trotzdem zu dieser Interpretation gelangt und haben die Turmbauer nach Osten reisen lassen.

Bibelleser mögen verwirrt sein über die sich um 180 Grad widersprechenden Richtungsangaben: Nun haben wir eine womöglich textgenauere Version (Luther 2017), die geografisch unwahrscheinlicher ist – und die ungenauere Übersetzung (Luther 1984), die geografisch deutlich plausibler erscheint. Wurde der Text verschlimmbessert?

Ich denke, des Rätsels Lösung liegt darin, diesen Bibelvers nicht geografisch zu übersetzen, sondern im Sinne der zeitlichen Interpretation des Begriffs »mi-qedem«. Der Vers könnte wie folgt zu verstehen sein:

»Als sie nun von dort aufbrachen, wo die Menschheit ihren (neuen) Anfang nahm, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst.«

Mit dieser Interpretation würden beide Luther-Versionen die ursprüngliche Aussage verfehlen, die Ausgabe 2017 wäre jedoch einen kleinen Schritt näher an der Wahrheit.

Quellen:

Lutherübersetzung 2017
Lutherübersetzung 2014
MacArthur-Studienbibel mit dem Text nach Schlachter
Elberfelder Studienbibel mit Sprachschlüssel (»qedem« siehe Nr. 7078)
Interlinearübersetzung: http://biblehub.com/interlinear/genesis/11.htm
»mi-qedem«: http://biblehub.com/hebrew/mikkedem_6924.htm

Timo Roller

 

 

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