von Timo Roller, #bibelabenteurer
Am 31. Mai 2015 besuchte ich mit meiner Familie das Deutsche Museum in München. Im Bereich »Schifffahrt« gibt es dort einen echten Fischkutter aus dem Jahr 1880 zu bestaunen; das nachgebildete Innenleben eines U-Boots und das Kanonendeck eines alten Kriegsschiffs sowie ein Modell der Titanic sind faszinierend für Kinder wie Erwachsene. Ganz unscheinbar dagegen ist ein schwarzes, rundes Boot, das mir dennoch ins Auge fiel. Es sieht aus wie ein viel zu groß geratenes Bortkörbchen.
Es ist eine sogenannte »Guffa« aus dem Irak, 1,40 Meter im Durchmesser. »Der Korb ist aus Schilfringen aufgebaut und von Streifen aus Palmenblättern zusammengehalten. Die Rippen im Innern sind Zweige des Granatapfelbaums, die mit Kokosfaserschnüren eingenäht werden. Die dicke Asphaltschicht, die das Gerüst abdichtet, muss von Zeit zu Zeit erneuert werden. Asphalt wird im irakischen Bootsbau viel verwendet. Schon im Altertum waren dort Asphaltlager bekannt.« – So steht es im Beschreibungstext am Ausstellungsstück.
Ich wäre sicher an diesem eher unschönen Gebilde vorübergegangen, wenn mich nicht zuvor ein Buch von Irving Finkel beschäftigt hätte: »The Ark before Noah«. Darin wird die These aufgestellt, dass die Arche genau so ausgesehen haben könnte: Ein rundes Korbboot, allerdings in Mega-Dimensionen. War dies vor mir in München also die Arche im Kleinformat?
In meinem Buch »Das Rätsel der Arche Noah« ging ich 2014 nur sehr kurz und oberflächlich auf Finkels runde Arche ein. Eine neu entzifferte Keilschrifttafel hatte diese eine Frage aufgeworfen, die mich beschäftigte und für die ich bisher noch keine hundertprozent überzeugende Antwort gefunden hatte: War die Arche rund?
Die Bibel beschreibt die Arche als einen rechteckigen Kasten mit einer Länge von 150 Metern, einer Breite von 25 und einer Höhe von 15 Metern. Ungefähr zumindest, es gab im Altertum unterschiedliche Ellenmaße. Während heutige Bilder der Arche oft eine Nußschale zeigen, bei der die Giraffen über das Deck hinausschauen, waren frühere Darstellungen – zum Beispiel in alten Bibeln – oft sehr stark dem Realismus verpflichtet und setzten die Vorstellung einer tatsächlich existierenden Arche um.
1872 sorgte George Smith weltweit für Schlagzeilen, als er das mesopotamische Gilgamesch-Epos übersetzte und erstaunt feststellte, dass es eine Sintfluterzählung enthält, die faszinierende Parallelen zum biblischen Bericht aufweist. Allerdings war dort von einer ganz anderen Form der Arche die Rede: Einem Würfel mit 120 Ellen (ca. 60 Metern) Kantenlänge.
Vor wenigen Jahren schickte der bekannte britische Assyrologe Irving Finkel eine ganz neue Arche-Form ins Rennen: Das Gefährt sei rund gewesen. Dies wird in einer neu entdeckten Keilschrift-Tafel beschrieben, der sogenannten »Arche-Tafel«. Sie wird auf 1750 v. Chr. datiert und wäre damit rund 1000 Jahre älter als die sogenannte 12-Tafel-Version des Gilgamesch-Epos, die die Angaben zur Würfel-Form enthält. Älteren Fragmente des Epos fehlt die entsprechende Passage und so ist nun ein überdimensioniertes rundes Korbboot – Coracle (walisisch) oder Guffa (arabisch) genannt – die angeblich älteste Beschreibung der Form der Arche.
Die wichtigsten Passagen der Arche-Tafel lauten:
»Atrachasis, achte auf meinen Rat, damit Du für immer leben mögest! Zerstöre das Haus, baue ein Boot! Verschmähe Besitztümer und rette Leben! … Ziehe das Boot, das du errichten wirst, auf einem kreisförmigen Plan auf. Lass die Länge und Breite gleich sein. … Die Grundfläche wird einen Morgen [eine iku-Fläche]> groß sein, die Seiten 7 Meter hoch. … Erinnere dich: Viele Male hast du Seile und Schilf für den Bootbau gesehen. Jemand anderer kann für dich die Seile flechten. Du wirst exakt 527 Kilometer Seil brauchen.«
Dankbar nahm die Presse die Botschaft einer runden Arche auf. Die »Welt« schrieb beispielsweise Anfang 2014 in einem Artikel: »Wer [bei der Arche] an ein Schiff mit einem zugespitzten Bug denkt oder auch an eine Art Kasten, wie es biblische Texte beschreiben, der irrt. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse legen nahe, dass die Arche Noah – oder ihr Vorbild – rund war.«
In Finkels Buch über die Arche Tafel ist ein sehr ausführlicher Anhang enthalten: »Die Arche bauen – ein technischer Bericht« [10]. Dort wird detailliert die Coracle-Bauweise der Arche beschrieben und viele Maße auf Grundlage der Angaben im Keilschrifttext berechnet.
Erstaunlich ist – dies weisen Finkels Berechnungen nach –, dass das errechnete Gesamtvolumen des »fingerdicken«, wohl aus Schilf geflochtenen Seils, das für den Bau einer Coracle mit dem angegebenen Grundriss notwendig wäre, fast genau mit dem dafür in Keilschrift angegebenen Wert übereinstimmt. Die Rechnung ergibt dann als für das Korbgeflecht der Coracle-Arche notwendige Gesamt-Seillänge immerhin 527 Kilometer! Diese Länge erscheint unrealistisch – und doch ist der Keilschrift-Text zumindest was die Konstruktion anbelangt sehr plausibel und scheint sehr viel näher an der Realität zu sein, als die Gilgamesch-Würfel-Arche.
Durch diese technischen Angaben und die Rekonstruktionsversuche ließ sich Irving Finkel dazu inspirieren, eine »Coracle-Arche« im Maßstab 1:5 bauen zu lassen. Im Film »Secrets of Noah‘s Ark« sind Finkels Erkenntnisse und das Bauprojekt dokumentiert:
Finkel ließ sein Team in den Südirak reisen, wo Konstrukteur Eric Stables an mächtigen Bauwerken aus Schilf genau jene Komponenten erkannte, die in der Arche-Tafel beschrieben werden. Doch: »Die Struktur könnte das Gewicht nicht tragen, aus physikalischen Gründen.« Daher wurde keine Coracle in Originalgröße gebaut, sondern eine mit nur etwa 12 Metern Durchmesser. Am Ende schwimmt sie tatsächlich, nur das nach traditioneller Herstellungsweise aufgetragene Pech ließ Wasser ins Innere gelangen und so liefen die Pumpen unter Volllast – und die dekorative Beladung mit einigen Nutztieren musste leider unterbleiben.
Irving Finkel glaubt nicht, dass es die Arche in dieser Form jemals gab, dies schreibt auch die »Welt« am Ende des erwähnten Artikels: »Was Finkel in der Entdeckung nicht sieht, ist eine Bestätigung dafür, dass die in der Bibel beschriebene Arche Noah existiert hat. Er glaubt vielmehr, dass sich die Geschichte von Noah entwickelt hat, als Erinnerungen an eine tatsächliche verheerende Flut über viele Generationen hinweg weitergegeben wurden.«
Ein kleines Coracle-Boot könnte es höchstens gewesen sein, wie er es in seiner Sintflut-Erzählung »The Lifeboat that saved the World« beschreibt und abbildet. Die Erzähler hätten aus dieser für sie realistischen Möglichkeit eine überhöhte lebensrettende Arche gemacht.
War die Arche also rund? Oder zumindest die Idee dessen, was die Arche gewesen sein soll? Dies legen jedenfalls Film und Medien nahe. Damit ist der biblische Bericht in Frage gestellt. Was ist davon zu halten?
Ursprünglich hatte ich überlegt, ob die Angabe eines »kreisförmigen Plans« vielleicht doch mit der Konstruktion der biblischen Arche – z.B. mit Hilfe eines Seilgerüsts – in Einklang zu bringen wäre. Doch Finkels Berechnungen und Rekonstruktionen ergeben, dass der Autor der Arche-Tafel sehr genau Bescheid wusste, wie eine Coracle-Bootsform herzustellen war, auch wenn ein historisches Vorbild niemals existierte.
Es ging dem Autor der Arche-Tafel möglicherweise lediglich darum, die schon seit viel längerer Zeit bekannte Geschichte eines Rettungsschiffs so glaubwürdig wie möglich wiederzugeben und eine möglichst detailgetreue Rekonstruktion aufgrund der ihm noch vorliegenden Originaldaten zu formulieren. Längen- und Breitenmaß sowie auch der Hinweis auf die Form waren wahrscheinlich verlorengegangen, aber es könnte sein, dass das ursprüngliche Maß der Grundfläche noch bekannt war. Denn die Grundflächen von Coracle-Arche, Gilgamesch-Würfel und der biblischen Version stimmen merkwürdigerweise sehr genau überein.
Die akademische Forschung geht davon aus, dass die biblische Überlieferung sehr viel jünger ist, als die Keilschrift-Quellen. Das hat sie von der bibelkritischen Theologie gelernt. Es ist der naturalistisch geprägten Wissenschaft also kaum ein Vorwurf zu machen, wenn sie die Bibel ganz am Ende einer Überlieferungskette sieht, an deren Anfang nur ein lokales Flutereignis stand, das wenig mit den globalen Ausmaßen eines göttlichen Strafgerichts zu tun hat. Erst durch menschliche Fantasie – von jenen, die das Ereignis überzeichnet und dramatisiert an ihre Kindern und Kindeskinder weitererzählten – wurden demnach Noah und seine Arche zu den Rettern der gesamten Menschheit.
Der Film gibt es als »die einzige denkbare Möglichkeit des Zusammenhangs« [12] zwischen Keilschrift und Bibel wieder: Während der Zeit in der babylonischen Gefangenschaft nach 587 v. Chr. lernten Judäer wie Daniel die Geschichten kennen und übernahmen sie als eigene religiöse Lehre. Aus der damals noch existierenden imposante Zikkurat von Babylon wurde die Geschichte vom Turmbau zu Babel, aus dem auch im Schreibunterricht eingesetzten Gilgamesch-Epos die Erzählung von Noah und der Arche.
Zu dieser Zeit war die Coracle-Form der Arche schon verloren gegangen, nach Finkels Interpretation habe im Laufe der Zeit irgendwann jemand gesagt: »Den ganzen technischen Kram der Geschichte brauchen wir nicht« [13].
Die Autoren der Bibel hätten dann eine zu ihrer Zeit gebräuchliche Bootsform ins Superlative gesteigert – zur Beschreibung eines Gefährts, das niemals in Wirklichkeit existierte.
Sind die Erzählungen der Genesis wirklich nur Geschichten, die jahrhundertelang mündlich überliefert wurden und erst in der babylonischen Gefangenschaft schriftlich fixiert wurden? Es gibt viele Gründe anzunehmen, dass Mose selber der Verfasser der nach ihm benannten fünf Bücher war [14]. Nur ein Zeitgenosse wie Mose konnte das Ägypten des 2. Jahrtausends vor Christus so wie im Buch Exodus beschreiben. Und auch die Bestätigung seiner Autorschaft durch Jesus sollte für Christen ein gewichtiges Argument sein.
Die Genesis ist das Buch, dessen Ereignisse vor Mose stattgefunden hatten und dessen Inhalt ihm aus anderen Quellen zugänglich gewesen sein muss. Dies könnten mündliche Überlieferungen gewesen sein, viel wahrscheinlicher ist aber, dass Mose auf schriftliche Zeugnisse zurückgreifen konnte: »Schon weit vor Abrahams Zeiten ist alles, was nur erwähnenswert war, auf Tontäfelchen schriftlich festgehalten worden« [15], schreibt der britische Forscher P.J. Wiseman. Er vertrat die These, dass in der Genesis typische Kennzeichen keilschriftlicher Textquellen erkennbar seien: »Die Genesis setzt sich demnach aus einer Täfelchen-Serie zusammen … Die ganze Serie kam dann in den Besitz Moses, der das Buch in der uns bekannten Form zusammenstellte und herausgab« [16].
Mose habe die Texte originalgetreu gesammelt und wiedergegeben, so dass auch Wortwiederholungen von aufeinanderfolgenden Täfelchen oder sogenannte Kolophone als Überbleibsel der Originalquellen immer noch zu erkennen seien. Daher könnten vielleicht sogar sehr frühe Geschichten aus der Zeit von Abraham, Nimrod oder Noah schriftlich überliefert worden sein. Wisemans Theorie ist auch unter christlichen Forschern umstritten, doch wenn schon weit vor Mose schriftliche Quellen existiert haben könnten, erscheint es plötzlich viel wahrscheinlicher, dass wahre Ereignisse aus unmittelbarer Erinnerung schriftlich fixiert wurden und die Sintflut nicht nur der übersteigerten Fantasie vieler Generationen von Erzählern entsprungen ist.
Wenn man sich von einer naturalistischen, von Atheisten geprägten Weltanschauung löst und das allmächtige Wirken Gottes in einem Denkmodell zulässt, muss die Frühgeschichte der Menschheit umgeschrieben werden, denn das gängige Entwicklungsmodell ist kaum mit den Erzählungen der Genesis in Einklang zu bringen.
Hat die Sintflut wirklich – so wie in der Bibel und in vielen Keilschrift-Texten bezeugt – in einer globalen Dimension stattgefunden? Ist die Arche auf einem der Berge Ararats (am südlichen Zipfel des Berglandes Urartu, auf dem Berg Cudi) gelandet? Noch zur Zeitenwende hat der Historiker Flavius Josephus auf Überreste der Arche verwiesen, die man besichtigen könne. Hat es die Arche wirklich gegeben, dann folgerichtig auch die Flut.
Vorstellbar wäre dies: Vom Bergland Ararat sind einige der Nachfahren Noahs in die Ebene Mesopotamies ausgewandert, um dort zu siedeln und Städte zu bauen. Viele Ausleger tendieren dazu, die biblische Beschreibung in 1. Mose 11,1+2 so zu interpretieren, dass es alle Menschen waren, die in die Ebene Schinar gingen. Doch archäologische Zusammenhänge und außerbiblische Überlieferungen [18] lassen vermuten, dass auch ein Teil der Menschheit zurückblieb – die Nachkommen Sems oder zumindest die Vorfahren Abrahams.
Dann wäre die Sprachverwirrung in Babel nur einem Teil der Menschheit widerfahren und von dort hätten sich die verschiedenen Sprachen ausgebreitet, während der semitische Sprachstamm, zu dem auch das Hebräische gehört, im Land Ararat, wo evtl. auch unweit davon Abrahams Ur [19] war, weiterhin gesprochen worden wäre. Und nur dort, bei den »Semiten«, wäre die Arche nach wie vor bekannt gewesen, da sie noch existierte. Und ihre Maße konnten schriftlich festgehalten werden.
Die Menschen in Urartu (Ararat) hatten nach dieser Hypothese die Arche und das später möglicherweise mit Abraham ins Heilige Land gebrachte Originaldokument der Sintflutgeschichte.
Den Menschen in Babel blieb hingegen nur die Erinnerung, die es später galt, in ihren neuen Sprachen festzuhalten. Dabei gingen möglicherweise Informationen verloren, vor allem, weil die Menschen sich gruppenweise in alle Himmelsrichtung ausbreiteten. Und doch gibt es auch viele Spuren, die zum wirklichen Ereignis zurückdeuten.
So wird beispielsweise das chinesische Schriftzeichen für Boot aus den Zeichen für »Gefäß« und für »acht« kombiniert, d.h. als ein Gefäß dargestellt, das acht Menschen beinhaltet – so schreibt es der chinesische Pastor C. H. Kang in seinem Buch »Erinnerungen an die Genesis«: »Man stellt fest, daß diese ursprünglich acht Leute, von denen die Erde nach der Sintflut wieder bevölkert wurde, in vielen chinesischen Schriftzeichen eine sehr wichtige und auffallende Rolle spielen.« [20]
In einer ausführlichen Studie weist Chan Kei Thong darauf hin, dass die Chinesen wie viele andere alten Kulturen die Geschichte von einer Sintflut kannten. Er bestätigt die Bedeutung des chinesischen Zeichens: »Acht Menschen in einem Schiff« [21].
Zum Ursprung dieses Zusammenhangs führt er aus, »dass historisch gesehen die chinesischen Zeichen ungefähr zur gleichen Zeit in Erscheinung traten, als die Völker nach der Katastrophe vom Turmbau zu Babel verstreut wurden, wie es in der hebräischen Geschichte berichtet wird. Daher wäre folgendes Szenario denkbar: Menschen waren aus dem Chaos in Babel geflohen und siedelten sich in der Flusstälern der Gegend an, die einmal China sein würde. Sie entwickelten eine Schriftsprache und benutzten dabei Symbole, die von den mündlichen Überlieferungen, die damals der ganzen Menschheit bekannt waren, beeinflusst waren und sich in einigen Fällen auf sie gründeten« [22].
Nach der Sprachverwirrung mussten die Ereignisse der Vorzeit wieder zu Papier – oder besser: zu Ton – gebracht werden. Vielleicht war neben weiteren Einzelheiten wie der Anzahl der Überlebenden noch die Grundfläche der Arche bekannt, denn sie ist erstaunlicherweise in der Bibel, auf der Arche-Tafel und im Gilgamesch-Epos nahezu identisch – andere Details gingen möglicherweise verloren.
Nach dieser bibelorientierten Rekonstruktion der Geschichte stand die 300 Ellen lange Kasten-Arche nicht am Ende der Überlieferungsgeschichte – sondern als wirkliches Schiff an deren Anfang. Wie kam es nun aber zur Formenvielfalt in der babylonischen Keilschrift?
Der christliche Historiker Werner Papke hat im Gilgamesch-Epos ein astronomisches – oder besser: astrologisches – Meisterwerk erkannt, das wahre Ereignisse verzerrt und mit neuen religiösen Interpretationen in den babylonischen Sternenhimmel projizierte. Dort musste die Arche einem Sternbild in Form eines himmlischen Quadrats entsprechen und so »interessierten [den Dichter des Gilgamesch-Epos]> die hydrodynamischen Verhältnisse natürlich wenig. Ihm geht es allein um die Beschreibung des (ASH).IKU, des himmlischen Quadrats, und darum müssen alle sechs Seiten der Arche quadratisch sein und eine Fläche von einem iku (ASH.IKU) aufweisen!« [25]
Auch die dritte Vogelart, die im Epos erscheint, erklärt er mit dem Auftreten eines entsprechenden Sternbilds: Neben Taube und Rabe sendet der babylonische Noah »Utnapischtim« zusätzlich eine Schwalbe aus [26].
Papke kommt zum Schluss, dass der biblische Bericht vor der Gilgamesch-Erzählung existierte: »Die Bibel berichtet uns das Sintflut-Ereignis ohne allen sekundären astronomischen Ballast! Wenn der Genesis-Bericht der Sintflut immer genau dort vom Epos abweicht, wo im Epos aus astronomischem Grunde etwas hinzugefügt werden mußte – wie im Falle der Schwalbe (SIM.MACH) – oder verändert werden mußte – wie bei den Maßen der Arche zur Beschreibung des (ASH).IKU –,dann ist es sehr unwahrscheinlich, daß die akkadische Sintfluterzählung die Vorlage für den biblischen Bericht gewesen ist, wie es in theologischen Kreisen seit über hundert Jahren immer noch behauptet wird« [27].
Wie schon erwähnt, führt Irving Finkel die Arche-Darstellung im Gilgamesch-Epos auf die frühere Coracle-Version der Arche-Tafel zurück – technische Details wurden einfach weggelassen. Aber er geht in seinen Überlegungen im Buch »The Ark before Noah« noch viel weiter, diese Aspekte wurden bei der oberflächlichen Darstellung im Film und in den Medien freilich weggelassen: Noch viel früher sei der Ursprung der Sintflut-Überlieferung anzusetzen und in den ganz alten Quellen sei die Arche auch wohl noch nicht rund gewesen, sondern länglich mandelförmig. Eine Schiffsform, die bei den Sumerern verbreitet war. Aber auch damals sei aus einem realen und lokal begrenzten Flutereignis mit einem normalen Boot ein überdimensioniertes Super-Boot geworden: »Die sumerische Flutgeschichte erwähnt eine gigantische Version dieses gisch-má-gur namens gisch-má-gur-gur, augenscheinlich eine besondere, überdimensionierte Form desselben« [28].
Von der sumerischen Flutgeschichte stammt wiederum eine mittelbabylonische Überlieferung ab, die den Bootsbegriff übernommen hatte: »Es gibt eine übliche, alltägliche Art eines sumerischen Flußbootes namens má-gur, das der Ursprung des akkadischen Lehnwortes makurru ist.« Auch von diesem gibt es eine Steigerungsform: makurkurru. In der mittelbabylonischen Flutgeschichte heißt es daher: »Mache daraus ein makurkurru-Boot mit dem Namen Lebensretter« [29]
Die Form dieser lebensrettenden Arche hat Finkel aus einer babylonischen Unterrichtstafel abgeleitet, auf der die Schnittmenge zweier Kreise als makurru-förmig bezeichnet wird. Es wird also die sich ergebende Mandelform mit der Form des Arche-Boots verglichen. Finkel schließt daraus, dass die auf der Arche-Tafel beschriebene Coracle-Form eine mandelförmige, längliche Vorläuferversion hatte. Er schreibt: »Ich argumentiere, dass sich das traditionelle Verstehen des Boots-Grundrisses von magur (lang und schlank) zu coracle (groß und rund) veränderte« [30].
Zuletzt hat nun Kai Alexander Metzler eine weitere – akkadische – Bezeichnung für die »Arche« ins Spiel gebracht: »bitistum«, »das Hausartige« [31]. So sei ein Wort zu lesen, das im Atrachasis-Epos als Beschreibung dessen dient, worin die Menschen die Katastrophe überlebt hätten. Länglich, hausartig – vielleicht doch ganz am Anfang der Überlieferung wieder der biblische Kasten?
Die Arbeit von Metzler geht stark auf sprachwissenschaftliche Details ein und er vergleicht zunächst einen Abschnitt aus dem altbabylonischen Atrachasis-Epos mit der sehr viel jüngeren Tafel XI des Gilgamesch-Epos. Dort heißt es in einem Abschnitt, der von der Situation unmittelbar nach der Flut handelt: »Von wo ist entkommen ein Leben? Wie hat ein Mensch in der Katastrophe überlebt?« [32]
Metzler argumentiert, dass es sich die Übersetzer zu einfach gemacht hätten, wenn sie den neubabylonischen Begriff »na-pisch-ti«, der im Gilgamesch-Epos mit »Leben« übersetzt worden sei, einfach mit dem schwer zu entziffernden und ansonsten unbekannten altbabylonischen Wort »bi-ti-isch-tum« gleichsetzten, um auch im Atrachasis-Epos die entsprechende Zeile mit »Von wo ist entkommen ein Leben?« zu übersetzen. Dort müsse es vielmehr heißen: »Von wo ist ein Hausartiges entkommen? Wie hat ein Mensch in der Katastrophe überlebt?«
Metzler geht vielmehr davon aus, dass das Wort ursprünglich als »das Hausartige« zu verstehen sei und erst später zu »Leben« verändert wurde. Er interpretiert die Anweisung des Gottes Enlils am Anfang der Geschichte als literarische Verbindung der Begriffe Haus und Schiff bzw. Besitz und Leben.
Die Formfrage spricht er ebenfalls an und bezieht sich auf Finkels Coracle. Er schließt: »Zwar stehen am Anfang der Geschichte des Hausbaus, auch explizit des altorientalischen, kreisrunde Strukturen, und sind zahlreiche einzelne Gebäude und noch zahlreichere Räume innerhalb von Gebäuden (annähernd) quadratisch, doch ein Quadrat als idealer Grundriß läßt sich für Häuser ‒ anders als für Ziqqurrate ‒ nicht zweifelsfrei plausibilisieren« [34].
Indem er später auch literarische Verknüpfungen von Arche, Arche-Berg, Zikkurat und weiteren Tempeln analysiert, kommt er über deren Formen und Abmessungen zum Schluss, dass hier wohl an eine rechteckige oder quadratische Arche gedacht war. Letztlich lässt er es aber offen, welches die frühere Form war: »Ob am Anfang das kreisrunde Boot stand, welches ein quadratisches Haus evozierte oder ob ein quadratisches Idealhaus zur Wahl eines kreisrunden Bootes geführt hat, sei dahingestellt« [36]. Nun stehen also deutlich vor der Coracle auf »kreisrundem Plan« weitere Arche-Formen zur Auswahl: Eine längliche Mandelform und eine nicht näher bestimmte »hausartige« Form. Und Grundflächen, die über alle Erscheinungsformen hinweg nahezu gleichgeblieben sind – zumindest dort, wo Abmessungen angegeben sind.
Zugunsten der Bibel könnte man also wie folgt argumentieren – ohne natürlich einen endgültigen Beweis zu haben: Die Arche war ein hausartiges, gigantisches längliches Schiff, sie existierte zunächst noch für eine lange Zeit und die Maße wurden von den dort weiterhin lebenden Menschen – Abrahams Vorfahren – festgehalten.
Die Völker, die von der Sprachverwirrung betroffen waren, mussten sich auf die Erinnerungen ihrer Vorfahren berufen, manche Details wurden festgehalten, manches nur unzureichend.
Jahrhunderte später hatte sich auf den Flüssen der mesopotamischen Ebene mit der Coracle eine Schiffsform durchgesetzt, die nicht mehr mandelförmig war, sondern rund. Vielleicht wollten Ingenieure nun die Beschreibung der Arche realisitischer erscheinen lassen und haben alles genau durchgerechnet – auf Grundlage der noch vorhandenen Information über die Grundfläche. Ihre Form und auch die Länge des zu verwendenden Seils ergaben sich aus ihren Vorstellungen und den darauf basierenden Berechnungen.
Im Gilgamesch-Epos dann, das, wie Werner Papke ausführte, nicht nur sehr starke religiöse, sondern auch astrologische Bezüge hatte, wurde der Realismus schließlich wieder aufgegeben und ein großer Würfel blieb übrig, mit der originalen Grundfläche, die nun aber einem Quadrat entsprach, das am Himmel wiederzufinden sei.
Parallel dazu hat sich – möglicherweise auch schon auf Keilschrift, wie P.J. Wiseman ausarbeitete – bei den Nachkommen Sems der originale Bericht erhalten, jederzeit überprüfbar an der wirklichen Arche, deren Reste zu Josephus‘ Zeit um die Zeitenwende noch existiert haben und die offenbar über Jahrtausende ein beliebtes Pilgerziel waren. Mose hat diese Überlieferungen dann in seinem Buch Genesis zusammengefasst und die Israeliten haben diese Schriften bis in die heutige Zeit wortgetreu überliefert. Der Kasten ist das Original, das Hausartige war einem stetigen Wandel unterzogen, bis es völlig entstellt war. Und nur zwischendurch war es – durch die Coracle-Rekonstruktion eines babylonischen Ingenieurs – im Ansatz schwimmfähig, wie Finkel bewiesen hat.
Nach den Berechnungen ist die Arche auch in voller Größe schwimmfähig. Der Beweis steht natürlich aus: Ken Hams Arche steht auf Land, der Nachbau in halber Größe des Niederländers Aad Peters hat schon mehrere Havarien hinter sich [37].
Dass es auch in den babylonischen Überlieferungen noch eine längliche Version gab, lassen die Angaben des Historikers Berossos vermuten [38]: Seine Arche war 5 Stadien lang und 2 Stadien breit. Im üblich umgerechneten Maß wären dies allerdings 750 x 150 Meter. Interessant ist, dass Berossos sicherlich Zugriff auf die alten Keilschriftüberlieferungen hatte und zusätzlich darauf hinweist, dass die Arche zu seiner Zeit noch in Überresten gesehen werden konnte. Somit spricht eigentlich vieles dafür, dass er die richtigen Maße und Proportionen gekannt haben könnte. Allerdings sind die Berichte Berossos nur in Zitatfragmenten überliefert, die aus viel späterer Zeit stammen. Daher könnten seine Originalschriften verändert worden sein.
Flavius Josephus, der in seinen »Altertümern« die biblischen Maße wiedergibt und ebenfalls von zu seiner Zeit existierenden Überresten berichtet, zitiert Berossos bezüglich der Arche nur sehr kurz – hier fehlen die Maßangaben des babylonischen Priesters.
Aber nicht zuletzt geht biblische Version der Geschichte auch davon aus, dass Gott hinter allem steht. Und er wird dafür gesorgt haben, dass Noah einen genaueren Bauplan hatte, als er uns überliefert ist. Und dass die Rettung auch tatsächlich stattfinden konnte und sein göttlicher Plan nicht durch menschliches Unvermögen zunichte gemacht werden konnte.
So lässt sich sagen: Die Arche war nicht rund, sondern ein gigantischer Kasten. Sie hätte möglicherweise auch rund sein können, aber dann hätten nicht alle Tiere reingepasst. Die Tiere, die Finkel bereitstellen ließ, um sie auf seine Coracle-Arche zu bringen, mussten draußen bleiben, denn die Crew war zu sehr damit beschäftigt, das Wasser aus dem Gefährt zu pumpen, um sie schwimmfähig zu halten. »Das Ergebnis ist zwar höchst erstaunlich, aber aus Sicht des biblischen Glaubens dennoch geradezu erwartet: Nur darum, weil Gott sie vorgegeben hatte, mussten sie [die Maße des Schiffes] optimal sein« [39].
Und neben den Ungereimtheiten um die Form der Arche, enthält die Arche-Tafel erstaunliche Angaben, die die Version der Bibel bestätigen [40]:
Ausführlich wird die Abdichtung der Holzkostruktion mit Bitumen beschrieben.
Die Arche-Tafel enthält den einzigen Hinweis in der babylonischen Überlieferung, dass von jeder Tierart ein Paar (»je zwei«) an Bord der Arche kam.
Die Tür wurde vor Beginn der Flut versiegelt [41]. Das steht am Ende der Arche-Tafel: »Wenn ich in das Boot hineingehe, dichte den Rahmen seiner Tür ab.« [42] Hier sind wir ganz nahe an der Bibel, wo es heißt: »Und der HERR schloss hinter ihm zu« (1. Mose 7,16).
Irving Finkels Vorstellung lautet: Es gab nur ein lokales Flutereignis, das stark übertrieben überliefert wurde. Die Arche-Vorstellung war zuerst länglich-mandelförmig, dann bekam sie eine runde Coracle-Form, daraus wurde die würfelförmige Gilgamesch-Arche und zuletzt die Arche Noah der Bibel.
Eine an der Bibel orientierte Vorstellung sieht wie folgt aus: Es gab tatsächlich eine globale Flutkatastrophe und auch eine real existierende Arche mit Ausmaßen nach dem Zeugnis der Bibel. Nach der Sprachverwirrung blieb die Erinnerung an eine »hausartige« oder mandelförmige Arche (ohne genaue Angabe der Form). Daraus entstand eine exakte »Rekonstruktion« als runde Coracle-Arche nach real existierenden Booten. Später gab es neben der auf astrologischen Überlegungen beruhenden würfelförmigen Gilgamesch-Arche weitere parallel tradierte Formen, z.B. als unbekannte Quelle für die längliche (aber viel zu große) Form von Berossus.
[1] Stefan Drüeke: »Die Arche Noah – Mythos oder Wahrheit«, Hückeswagen 2015, S. 68
[2] Möglich wäre sogar, dass eine vorsintflutliche Elle noch länger war.
[3] Dieses und das folgende Zitat aus: Werner Gitt: »Das sonderbarste Schiff der Weltgeschichte«, S. 2
[4] Stefan Drüeke: »Die Arche Noah …«, S. 84
[5] Siehe dazu mein Buch, Kapitel 12: »Ein ungewöhnliches Schiff«, S. 85ff sowie Reinhard Junker und Fred Hartmann: »Paßten alle Tiere in die Arche?«, Wort und Wissen, 1990 (mit Anmerkungen von 2009)
[6] Werner Gitt: »Das sonderbarste Schiff …«, S. 3
[7] Nach der englischen Übersetzung von Irving Finkel von mir ins Deutsche übertragen. Version aus seinem Buch »The Lifeboat that saved the World«, London 2017, in dem die Längenangaben bereits in Meter umgerechnet sind. Sein Buch »The Ark before Noah«, London 2014, enthält den Text der Arche-Tafel ab S. 357 mit Transliteration der babylonischen Keilschrift, englischer Übersetzung und vielen grammatikalischen Anmerkungen.
[8] einer der drei keilschriftlich bezeugten Namen für Noah …
[9] Welt-Artikel »Alte Tontafel entfacht Wirbel um die Arche Noah« von 2014
[10] Irving Finkel: »The Ark before Noah«, London 2014, Anhang 3, ab S. 333
[11] Siehe »The Ark before Noah«, S. 341
[12] Piotr Michalowski von der University of Michigan im Film »Secrets of Noah‘s Ark«, 36:30 min
[13] Irving Finkel im Film »Secrets of Noah‘s Ark«, 27:20 min
[14] Siehe Timo Roller: »Das Rätsel der Arche Noah«: S. 76ff. und auch online
[15]: P. J. Wiseman: »Die Entstehung der Genesis«, Wuppertal 1987, S. 56
[16]: »Die Entstehung der Genesis«, S. 57
[18] z.B. »Enmerkara und der Herr von Arata«, z. B. im gleichnamigen Werk von Catherine Mittermayer, Göttingen 2009
[19] Das heutige Sanliurfa
[20] C. H. Kang: »Erinnerungen an die Genesis«, Neuhausen-Stuttgart 1998,S. 100
[21] Chan Kei Thong: »Chinas wahre Größe«, Singapur 2009, S. 79
[22] »Chinas wahre Größe«, S. 59
[23] Siehe Flavius Josephus: »Jüdische Altertümer«, übersetzt von Dr. Heinrich Clementz, Marix, Wiesbaden 2004
[25] Werner Papke: »Die geheime Botschaft des Gilgamesch«, Weltbild, Augsburg 1996: »Solch ein Würfel ist vom hydrodynamischen Standpunkt aus natürlich äußerst ungeeignet als Schiff, geschweige denn als Sintflutschiff.« (S. 153)
[26] »Die geheime Botschaft des Gilgamesch«: »›Quadrat‹ und ›Schwalbe‹ am Himmel der Chaldäer erklären, warum die Arche Utnapischtims eine quadratische Grundfläche von 14.400 Quadratellen hat und warum der babylonische Sintflutheld außer einer Taube und einem Raben noch eine Schwalbe fliegen läßt. (S. 156)
[27] »Die geheime Botschaft des Gilgamesch«, S. 157
[28] Irving Finkel: »The Ark before Noah«, London 2014, S. 120
[29] »The Ark before Noah«, S. 121
[30] »The Ark before Noah«, S. 311
[31] Kai Alexander Metzler: »bītištum ›das Hausartige‹«, in: »Studia Mesopotamica«, Münster 2015
[32] siehe »bītištum ›das Hausartige‹«, S. 150
[33] siehe »bītištum ›das Hausartige‹«, S. 159ff
[34] »bītištum ›das Hausartige‹«, S. 163
[35] »bītištum ›das Hausartige‹«, S. 175 ff
[36] »bītištum ›das Hausartige‹«, S. 181
[37] Artikel über die »Havarie der Arche«
[38] siehe die Fragmente von Berossus
[39] Werner Gitt: »Das sonderbarste Schiff …«
[40] Siehe mein Artikel: http://www.noahsark.site/html/140130_arkbeforenoah.html
[41] »The Lifeboat that saved the World«, S.78
[42] »The Ark before Noah«, S. 366