von Timo Roller
Wo war Gott in Auschwitz? Diese Frage wird existenziell, wenn man das größte und berüchtigtste Konzentrationslager besucht. Wie konnte Gott millionenfaches Leid zulassen, das dort geschah? Ausgerechnet an jenem Volk, das wie wir Christen an ihn glaubt? Am auserwählten Volk!
Der Holocaust-Überlebende Elie Wiesel schrieb: »Nie werde ich die Augenblicke vergessen, die meinen Gott und meine Seele mordeten.« Wie gehen die Juden, wie gehen wir Christen mit Auschwitz um?
Im März machten wir eine Studienreise nach Auschwitz (sowohl zur Besichtigung der Konzentrationslager als auch der polnischen Stadt Oświęcim mit ihrer jüdischen Vergangenheit) sowie nach Krakau. Wir waren eine Gruppe von 24 Teilnehmern: Lehrer, Pfarrer, Historiker, Interessierte und als Reiseleiter der evangelische Schuldekan aus unserem Bezirk, Thorsten Trautwein. Zusammen mit mir gehört er zum Leitungsteam des Medienprojekts »Papierblatt – Holocaust-Überlebende berichten«.
Timo Roller, der Autor dieses Artikels und Geschäftsführer der MORIJA gGmbH, und Schuldekan Thorsten Trautwein betreiben gemeinsam mit der Organisation Zedakah e.V. aus Maisenbach die digitale Lernplattform www.papierblatt.de. Dort können für den Unterricht oder für privaten Gebrauch Zeitzeugen-Berichte von Holocaust-Überlebenden abgerufen werden. Auch auf der Auschwitz-Reise haben sie für das Projekt Informationen, Bildmaterial und Eindrücke gesammelt. Im April 2020 ist das Buch »900 Tage in Auschwitz« erschienen, Autor ist Mordechai Papirblat, dessen Name das Zeitzeugen-Projekt inspiriert hat.
Die Sonne scheint, als wir Auschwitz I besichtigen, das »Stammlager«. Der höhnische Schriftzug »Arbeit macht frei« am Eingang, die roten Backsteinhäuser: alles in schönstem Licht für mich als Kameramann und Fotograf. Und doch so schrecklich. In jedem der zweistöckigen Häuser haben 800 bis 1000 Häftlinge gelebt. Mein Heimatdorf in zwei Wohnblocks!
Der Stacheldraht, der Kellerblock mit Steh- und Hungerzellen, Appellplatz mit Galgen: Wie grausam waren die Deutschen damals in diesem Areal der industriellen Tötung! Wie kann man anderen Menschen solche Dinge antun? In einen 90 mal 90 Zentimeter kleinen dunklen Raum vier Menschen zwängen, die dort stehen müssen – stundenlang, tagelang?
Hier, im Stammlager, vergasten die Nazis ab Ende 1941 Menschen mit Zyklon B. Nach ersten Versuchen im »Block 11« ging eine Gaskammer mit Krematorium in Betrieb. In der Folge wurden im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau mehrere solcher Anlagen gebaut, von denen allerdings heute nur noch Ruinen zu sehen sind, da sie am Kriegsende von der SS gesprengt wurden.
Im Stammlager drängen sich viele Touristen, große Jugendgruppen. Es gibt Warteschlangen, man zwängt sich durch Ausstellungsräume, per Audioguide bekommt man die schrecklichen Fakten direkt ins Ohr. Zwei Tonnen Haare, dreistöckige Holzbetten, viele Reihen Fotos der ehemaligen Häftlinge, deren Namen zu Nummern degradiert wurden. Es gelingt mir nicht, die erschütternden Eindrücke so schnell zu verarbeiten, wie ich sie wahrnehme.
Eine Kunstausstellung führt uns das grausame Geschehen dann in aller Deutlichkeit vor Augen: Bilder des Malers und Holocaustüberlebenden David Olère zeigen die Qualen, nackte Körper, abgemagerte Körper, tote Körper, sadistische SS-Leute – aus der Erinnerung gemalt.
Der Besuch in Auschwitz überwältigt den Verstand. Als deutscher Besucher befällt mich Scham: Die Propaganda verstehe ich im Original, während polnische, englische oder israelische Besucher die Übersetzungen lesen müssen.
Die Anonymität der tausenden Opfer durchbricht die Rose in der Hand eines Jungen inmitten einer Besuchergruppe. Gibt es eine persönliche Verbindung zu einem der Menschen, der hier sein Leben ließ? Später sehe ich die Blume am Erschießungsplatz wieder.
Am nächsten Tag: Auschwitz-Birkenau steht für den industriellen Massenmord des 20. Jahrhunderts. Hier wurden etwa 1,5 Millionen Menschen buchstäblich »vernichtet«. Das große Eingangsgebäude taucht unvermittelt vor uns auf, als wir mit dem Bus um die Ecke biegen. Das bekannte Fotomotiv ist plötzlich real geworden. So real wie der Wind, der uns kräftig und eisig um die Ohren pfeift. Vier Wände und ein Dach über dem Kopf – in der ersten Baracke, die wir besuchen, fühle ich mich geschützt, fast behaglich. Was für ein idiotischer Gedanke! Pro Baracke waren bis zu 400 Menschen unter schrecklichen Bedingungen untergebracht. Ging es ihnen vielleicht ähnlich, wenn draußen zweistellige Minusgrade herrschten?
Birkenau ist ein deprimierender Ort – umgeben von windgebeugten Birken – an dem hunderte, tausende Menschen pro Tag an der langen Rampe mit Viehwaggons ankamen: Nur zu dem Zweck, entkleidet, ausgeplündert, entmenschlicht, auf ihren Platz in der Gaskammer wartend untergebracht – und dann schließlich vergast und verbrannt zu werden. Vom Lagerführer Karl Fritzsch sind die »Begrüßungsworte« überliefert: »Ihr seid hier nicht in ein Sanatorium gekommen, sondern in ein deutsches Konzentrationslager, aus dem es keinen anderen Ausgang gibt, als durch den Schornstein des Krematoriums.«
Die Asche der Opfer wurde hinten in den Wäldern verteilt, Gruben und Teiche wurden aufgefüllt. Manchmal verbrannten sie Leichen unter freiem Himmel, wenn die Kapazität der Krematorien nicht ausreichte. Es gibt einige wenige illegal gemachte Fotos davon. Und dort, ganz hinten, sind während unseres Besuchs die Pfützen auf den Wiesen immer noch gefroren, obwohl es doch die letzten Tage gar nicht so kalt gewesen ist. Hier scheint der kälteste Ort auf Erden zu sein.
Wir sind fast am Ende der Führung, die Fakten und Eindrücke müssen verdaut werden. Wir bleiben noch in Birkenau, für den Nachmittag steht eine »Kreuzwegmeditation« auf dem Programm. In Begleitung von Schwester Mary vom »Zentrum für Dialog und Gebet« wird unsere Gruppe ein zweites Mal über das Lagergelände gehen. Kann man diesem Areal des Horrors einen christlichen Kreuzweg »überstülpen«? Ich bin skeptisch. Und stelle mir resigniert die Frage: Wo und wie soll hier Gott zu finden sein?
»Leere Phrasen würden hier zu einer Beleidigung der Opfer«, so steht es dann in der Einleitung des kleinen Buches*, das uns mit deutschen Texten auf unserem Kreuzweg begleitet. Schwester Mary kann nur englisch, sie begleitet uns, weist uns den Weg. Die Texte lesen wir abwechselnd selber.
Ein Ringen um den Glauben, eine Suche nach Gott – so wird das Ansinnen des Kreuzwegs in diesem Büchlein beschrieben, das ich hinterher gekauft habe und das mir inzwischen wertvoll geworden ist. Der Leidensweg von Jesus wird dem Leidensweg der Opfer in Auschwitz gegenübergestellt. Lagererinnerungen wechseln sich mit Bibeltexten und Gebeten ab. Die Häftlinge, die Juden, die Frauen, aber auch die Täter und diejenigen, die als Lagerinsassen im Überlebenskampf Schuld auf sich laden mussten, kommen zur Sprache, kommen unters Kreuz, werden umbetet.
Es ist ein Kreuzweg mit wichtigen und tiefgehenden, auch schockierenden Impulsen. Jesus und (hier in Polen besonders aus katholischer Perspektive) Maria stehen im Mittelpunkt. Juden! Ein Gedicht der Theologin Stanislawa Grabska wird zitiert:
»Wären nicht beide ins Gas gegangen
mit ihrem Volk
in jenen schrecklichen Zeiten?«
»Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?« – rief Jesus, der Jude, am Kreuz. Dachten dies wohl nicht auch seine jüdischen Geschwister in den Gaskammern? Wo war Gott in Auschwitz? Wo war er auf Golgatha? Der Kreuzweg endet mit der 14. Station: Jesus wird ins Grab gelegt. Dass dies nicht das Ende ist, weiß jeder Christ. Am Ostermorgen wird die Auferstehung folgen. »Das Grab hat nicht das letzte Wort«, so steht es im Büchlein, als wir am Ende des Weges in Birkenau stehen. Und aus Hesekiel 37 lesen wir: »Die Hand des Herrn kam über mich, und der Geist des Herrn führte mich hinaus und trug mich in ein Tal, das mit Totengebeinen angefüllt war« (Vers 1).
Was Hesekiel im Geiste sah, ist für uns Realität: Auf diesen etwa 1,3 Quadratkilometern Fläche zwischen den Birken liegen die verbrannten Gebeine von über einer Million Juden. Und hier lesen wir weiter: »So spricht Gott, der Herr: Seht, ich öffne eure Gräber; ich lasse euch als mein Volk aus euren Gräbern steigen und bringe euch nach Israel zurück. Und wenn ich eure Gräber öffne und euch als mein Volk aus euren Gräbern steigen lasse, dann werdet ihr erkennen, dass ich der Herr bin« (Vers 12-13).
Zuvor ist der Himmel während unseres Kreuzwegs aufgeklart und ein Regenbogen erstrahlte über den Baracken von Birkenau. Welch Zeichen der Hoffnung! Als 2006 der deutsche Papst Benedikt XVI. in Auschwitz war, gab es auch einen Regenbogen, wird uns Schwester Mary am Abend erzählen. Später sagte der Papst über dieses Ereignis: »Der Regenbogen war wie eine Antwort: Ja, ich bin da, und die Worte der Verheißung, des Bundes, die ich nach der Sintflut gesprochen habe, gelten auch heute.«
Gott ließ es zu, dass sein Sohn, dass sein Volk sich wortwörtlich gott-verlassen fühlten! Ich muss mir eingestehen, dass ich keine Erklärung dafür habe. Aber ich weiß, dass Gott Überwältigendes tat, als er dann wieder ins Geschehen eingriff. Er holte Jesus aus dem Grab. Er gab seinem Volk eine neue Heimat. Er zeigte damals – zu Urzeiten – nach dem Gericht der Sintflut den Regenbogen. Er rief sich neu mit seiner Allmacht in Erinnerung. Er ist immer da gewesen. Er ist immer da – auch wenn wir uns gottverlassen fühlen. »Aus den Gaskammern hörte man jüdische Psalmengesänge. Und auch in der Todeszelle von Maximilian Kolbe [eines katholischen Priesters, der sein Leben für einen Mithäftling opferte und 1982 heiliggesprochen wurde] konnte man Gebete hören« – so berichtet es unser Kreuzweg-Büchlein.
Ein weiteres Hoffnungszeichen an diesem Tag sind die vielen jungen Leute aus Israel, die in einer großen Gruppe das Vernichtungslager besuchen. Traurig, aber selbstbewusst und mit vielen Israelfahnen gehen sie über das Gelände. Nachdem der Davidstern zur Ausgrenzung ihrer Vorfahren missbraucht worden ist, bevor sie hier eingesperrt und umgebracht wurden, ist er nach dem Krieg zur Staatsflagge Israels geworden. Diese blau-weißen Fahnen bewegen sich nun mit den jungen Israelis über das Gelände. Die Botschaft für mich: Der Plan Adolf Hitlers und der Nationalsozialisten, alle Juden umzubringen, ist gescheitert. »Am Israel Chai« heißt ein bekanntes hebräisches Lied, das von diesen Nachkommen der Überlebenden gesungen wird: »Das Volk Israel lebt!«
Unser Aufenthalt in Auschwitz endet mit dem Besuch des Nebenlagers Monowitz, von dem nur noch wenig zu sehen ist. Ein Luftschutzbunker, ein baufälliges Backsteinhaus, eine Übersicht anhand alter Bilder. Die Führung geht mitten durch eine Wohnsiedlung. Den letzten Tag verbringt unsere Gruppe dann in Krakau. Eine Stadt wie aus dem Bilderbuch, hier kann man sich wieder an Architektur erfreuen, zurückkehren in eine Welt, die nicht nur aus Abgründen besteht. Den letzten Abend halten wir uns im Krakauer »Kasimir-Viertel« auf. Synagogen, Buchläden, Kneipen und Läden zeugen von einem aktiven jüdischen Leben. Zum Ausklang der Reise gibt es Klezmer-Musik und israelischen Wein. Das Volk Israel lebt, auch hier in Polen. Wie schön, das am Ende dieser eindrücklichen Fahrt zu sehen!
Und so bringe ich von dieser Reise nach Polen den Wunsch aus unserem kleinen Büchlein mit: »Auschwitz muss ein Ort werden, der der Welt die Würde jedes einzelnen Menschen bewusstmacht und uns in unsere große Verantwortung für den Frieden ruft.« Auch der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer wird zitiert: »Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag« – in dieser Gewissheit konnte er in jener schrecklichen Zeit selbst kurz vor seiner Hinrichtung dichten und beten. Die bekannten Liedzeilen haben für mich im Angesicht von Auschwitz an Größe und Tiefe gewonnen.
Timo Roller