Für Muslime, Juden und Christen habe der Berg Cudi eine ähnlich große Bedeutung wie Jerusalem, so berichtete die türkische Ausgabe des Nachrichtensenders CNN am 30. Juli 2022 über das zweite Cudi-Festival, das am traditionellen Landeplatz der Arche Noah gefeiert wurde. Der türkische Innenminister Süleyman Soylu war vor Ort und überbrachte die Grüße von Präsident Recep Tayyip Erdogan. In seiner etwas blumigen Rede sprach er dem Berg Cudi die Freude darüber zu, dass nun der Terror erfolgreich bekämpft worden sei und der Weg gebahnt ist für Frieden, Eintracht und Solidarität. Er ehrte auch die bei den militärischen Aktionen in den vergangenen Monaten gefallenen Soldaten.
In den vergangenen Jahrhunderten trafen sich regelmäßig Scharen von Pilgern auf dem Gipfel des 2114 Meter hohen Bergs Cudi, der sogenannten »Sefine«. Das Pilgertum zum Landeplatz der Arche lässt sich mindestens 3000 Jahre zurückverfolgen, seit über 40 Jahren ist die Gegend aber militärisches Sperrgebiet und war zum Brennpunkt des türkisch-kurdischen Konflikts geworden. Der Pilgerort war umkämpfte Kommandozentrale kurdischer Guerillakämpfer.
In die kurdisch besiedelten Städte und Dörfer um den Berg Cudi Dagh, den ich (und inzwischen viele andere) für den Berg der Arche Noah halte, sind im Jahr 2020 um die 1500 Soldaten einmarschiert, auf dem Gipfel ist als politisches Machtsymbol eine türkische Flagge gehisst worden, Einheiten wurden dort stationiert, nachts brannten helle Scheinwerfer. Die Operation nannte sich »Yildirim-1 Cudi« und diente dazu, die Gegend unter die uneingeschränkte Herrschaft der türkischen Regierung zu bringen. Mit schweren Waffen und massiven Rodungen der Wälder wurden die kurdischen Kämpfer aus ihren Schlupfwinkeln vertrieben. Zwar war noch in letzter Zeit aus kurdischen Quellen Gegenteiliges zu hören, aber nach türkischen Angaben ist die Gegend »von Terroristen befreit«.
Zweifel am künftigen Frieden in der Region bleiben und das Auswärtige Amt warnt immer noch vor Reisen in den Südosten der Türkei. Anschläge der grenzüberschreitend agierenden kurdischen Guerillagruppen sind wohl nach wie vor jederzeit möglich.
Die Lage im Kurdengebiet ist kompliziert, die Verbindungen und Feindschaften vielfältig, der Konflikt tief in der Vergangenheit verwurzelt, als die neu gegründete Türkische Republik auf Kosten der zahlreichen Minderheiten eine nationale Identität mit harten Maßnahmen durchzusetzen begann. Auf kurdischer Seite gibt es rivalisierende islamistische und kommunistische Kämpfer, die kurdischen Organisationen erstrecken sich über die Grenzgebiete von Syrien, dem Irak, Iran und der Türkei. Immer wieder wurden die Kurden in ihren Konflikten von Verbündeten enttäuscht und im Stich gelassen. Die türkischen Soldaten werden oft unfreiwillig in die kurdisch besiedelte Provinz versetzt, fernab von den großen Städten. Vor allem von der ländlichen Bevölkerung werden sie als unwillkommene Besatzer gesehen und leben in ihren Kasernen.
Christliche und jesidische Minderheiten, deren Glaubensgeschwister zumeist schon in den 1990er Jahren vertrieben wurden, haben es sehr schwer in der spannungsgeladenen Situation zwischen türkischem Nationalismus und kurdisch-sozialistischer Freiheitsromantik, die den Südosten des Landes prägt. Und in jüngster Vergangenheit hat die außenpolitische Rolle der Türkei im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine dazu geführt, dass militärische Aktionen im türkisch-syrischen Grenzgebiet von den Nato-Partnern weitgehend ignoriert und geduldet werden.
Viel Prominenz, aber auch hunderte Bürger nahmen am Cudi-Festival teil, eine Straße führt inzwischen fast zum Gipfel hinauf. Parkende Autos prägten das Bild am Tag des Pilgerfests. Etwas unterhalb der Sefine war eine Bühne aufgebaut, es wurden Reden gehalten, Musik gespielt und dazu getanzt.
Schließlich machten sich die Menschen zum Arche-Noah-Landeplatz auf, um zu beten. Das Gebet leitete Ali Erbas, der Präsident des Amtes für religiöse Angelegenheiten und die oberste islamische Autorität der Türkei. Von den uralten Mauern, die schon Festung, Kloster und Moschee waren, ließen die Pilger Tauben fliegen – wie zu Zeiten Noahs.
Festgehalten wurde alles in vielen Bildern und Videoaufnahmen, auch aus der Luft. Faszinierende Eindrücke jener Gebirgslandschaften, die mir seit Jahren von mühsam gesammelten Fotos und aus Google Earth vertraut sind. Im September 2013 war ich dort, in der Stadt Sirnak, und nahm am ersten Symposium zur Arche Noah teil. Wir hatten die begründete Hoffnung, hierher, zum Arche-Landeplatz zu gelange. Daraus wurde nichts, ich erzähle die Episode im ersten Kapitel meines Buchs »Das Rätsel der Arche Noah«. Und nun ist dieser Platz durch Straßen zugänglich, mit Pilgern bevölkert und in den Sozialen Medien präsentiert. Eines Tages möchte ich »Sefine« besuchen – wann wird dies wohl möglich sein? Schon oft haben sich aufkeimende Hoffnungen zerschlagen.
Osman Bilgin, der Gouverneur der Region Sirnak, in der das Cudi-Gebirge liegt, hatte vor der Veranstaltung betont, dass diese heilige Stätte die Wiedergeburt der Menschheit symbolisiere und nun wieder für die Anbetung zugänglich gemacht werde. Man habe bei der Schaffung der Infrastruktur darauf geachtet, das historische Areal nicht zu zerstören. Es sei geplant, archäologische Ausgrabungen durchzuführen, die Gipfel-Region zum Nationalpark zu machen und zur Aufnahme als UNESCO-Weltkulturerbe vorzuschlagen. Eine Rede beim Festival hielt Prof. Ibrahim Baz von der Universität Sirnak, den ich 2013 persönlich kennenlernte und der wichtige archäologische Beiträge zur Erforschung des Bergs veröffentlicht hat.
Inwiefern ein gleichberechtigtes Pilgertum verschiedener Religionen, Ethnien und Nationalitäten zum Landeplatz der Arche Noah in Zukunft möglich sein wird, ist die spannende Frage. Neben mutmachenden Worten und den gleichnishaft in die Lüfte entlassenen Tauben zeigten die Nationalflaggen und die Grundstimmung des Geschehens doch auch deutlich, dass die Herrschaft der türkischen Regierung und des Islam als unumstößliche Rahmenbedingungen für Frieden, Anbetung und Brüderlichkeit gesehen werden. Diese beruhen eher auf Stärke als auf Kooperation. Daher ist zu befürchten, dass der Streit unter den Kindern Noahs in jener bedeutsamen Region am Cudi Dagh noch nicht endgültig beigelegt ist und die Taube aus der Arche, die heute als Friedensbotin gilt, ihren Auftrag noch nicht erfüllt hat.
Timo Roller