Die sogenannte Shiloah-Inschrift mit dem eindrücklichen Zeugnis dafür, dass sich Bergarbeiter »Hacke gegen Hacke« in der Mitte des Hiskiatunnels begegneten, ist weltbekannt. Sie wurde 1880 am Südausgang des Wasserkanals entdeckt, der sich auf einer Strecke von über 500 Metern durch den Fels der Davidstadt in Jerusalem windet und Wasser von der Gihon-Quelle zum Siloah-Teich führt. Heute befindet sich die Inschrift im Museum in Istanbul, denn Jerusalem befand sich damals unter osmanischer Herrschaft.
Nun ist im israelischen Fernsehen von neu entdeckten Inschriften die Rede! Professor Gershon Galil von der Universität Haifa und der langjährige Davidstadt-Ausgräber Eli Shukron zeigen Schriftzeichen, die wohl an den Wänden des Tunnels entdeckt und entziffert wurden.
»Sieben neue hebräische Inschriften« seien insgesamt entdeckt worden, entziffert worden sein soll unter anderem folgender Text (englische Version):
»Hezekiah son of Ahaz king of Judah,
Made this pool and the canal.
In the seventh year on the second day of the fourth month to the reign of King Hezekiah.
The King directed the water into the city,
In the canal the king brought the water to the pool,
And he fought the Philistines from Ekron to Gaza
And he stationed there the Orev battalion of the army of Judah
And he broke the "Matzevot" and the Nehoshtan (Copper Snake of Moses) and the Ashera.
Hezekiah accumulated all the wealth on the house of YHWH
Silver and much gold, incenses, and good oil.«
Auch eine alte Tafel, die bereits 2008 im Areal des Quellbereichs aufgefunden wurde, ist durch Galil und Shukron wieder ins Spiel gebracht worden. Auf ihr solle der Name des biblischen Königs Hiskia (726–697 v.Chr.) eindeutig zu erkennen sein. Vorgeschlagen hat dies allerdings schon Peter van der Veen im Jahr 2009, mit einer gewissen Vorsicht.
Ich selbst war mit meinem Forscherkollegen Ulrich Romberg, der sich bereits seit Jahrzehnten mit der unterirdischen Wasserversorgung Jerusalems und insbesondere mit dem Hiskiatunnel beschäftigt, im Jahr 2018 auf einer »kleinen schwäbischen Expedition« in der Davidstadt, siehe dazu unseren ausführlichen Bericht Jerusalem: Expedition mit Tunnelblick.
Dreimal sind wir damals durch den Kanal gewatet, einmal mit Professor Ronny Reich, dem ehemaligen Chefarchäologen der Davidstadt. Er hat uns die interessanten Merkmale erklärt und Romberg hat mit ihm seine eigenen Schlüsse diskutiert: Dass nämlich der Verlauf des Tunnels nicht aus Zufall und Unkenntnis der Arbeiter so verlaufen ist, sondern einem durchdachten und geradezu genialen Plan folgte.
Zum Vergleich diente Romberg der deutlich jüngere Eupalinos-Tunnel auf der griechischen Insel Samos. Dieser hat zwar einen ziemlich geraden Verlauf, weist aber ähnliche bergwerkliche Merkmale auf wie z. B. Fangstollen zum Ausgleich geringfügiger Abweichungen bei aufeinanderzuarbeitenden Teams.
Eine weitere Gemeinsamkeit sind – und das stellte sich erst nach unserer Reise heraus! – bestimmte Zeichen und Markierungen im Inneren des Tunnels. Im Tunnel von Samos sind diese recht häufig und auch gut dokumentiert, im Hiskiatunnel allerdings wurde bislang nichts dergleichen vermeldet.
Beim Sichten unseres von mir aufgenommenen umfangreichen Videomaterials aus dem Tunnel fielen Ulrich Romberg etliche Stellen auf, die vermutlich Zeichen enthalten. Aufgrund gewisser Unsicherheiten, aber auch der möglicherweise weitreichenden Auswirkungen bei einem öffentlich zugänglichen Bauwerk, hielten wir uns bislang zurück, mit unseren Beobachtungen an die Öffentlichkeit zu gehen.
2019 unterzogen wir bei einer weiteren Begehung drei Stellen einer genaueren Untersuchung: an einer davon, genau am Zusammenschluss der beiden Tunnelhälften (»Hacke gegen Hacke«) waren tatsächlich eindeutige Farbreste, vielleicht Pinselstriche, zu erkennen, eventuell sind hier mehrere Schriftzeichen angebracht. An einer anderen Stelle, einem Blindstollen, war unter UV-Licht ein Pfeil zu sehen, der in die Richtung wies, in die der Tunnel weiterlief. Die dritte Stelle war ziemlich offensichtlich eine Kalkausblühung.
Immer noch vorsichtig versuchten wir, Kontakt mit Ronny Reich aufzunehmen, der sich aber leider nie zurückmeldete. Später schickte ich Eli Shukron, den ich über Facebook kontaktierte, einen Hinweis auf unseren Fund. Erst vor wenigen Wochen schließlich, nachdem ich über Peter van der Veen eine Verbindung hergestellt hatte, schickte ich eine kurze Funddokumentation an eben diesen Professor Gershon Galil, der nun mit Inschrift-Funden an die Öffentlichkeit kommt!
Ob meine Informationen eine Auswirkung auf die Entdeckungen gehabt haben, weiß ich noch nicht, eine Anfrage an ihn blieb bisher unbeantwortet (Update vom 16.12.: Er hat mit »Nein« geantwortet«, siehe unten). Damals, am 7. September 2022, versprach er: »Ich schau mir das an.« – Ist er auf »unsere« Inschriften im Tunnel gestoßen? Wahrscheinlich nicht, die Bilder und Informationen scheinen andere Stellen im Hiskiatunnel zu beschreiben. Diese würden allerdings auch nicht die weitreichenden Verse herzugeben, die er jetzt veröffentlicht hat.
Die umfangreichen Inschriften, die Galil und Shukron nun veröffentlicht haben, wären in der Tat ein sensationeller Fund. Er selbst schrieb am 14.12.2022 auf Facebook (automatisch aus dem Hebräischen übersetzt): »Ich freue mich und bin stolz, Sie hier über die wichtigste archäologische Entdeckung in Israel aller Zeiten zu informieren.«
Angesichts der gezeigten Bilder und Rekonstruktionszeichnungen frage ich mich allerdings, ob da nicht zuviel hineininterpretiert wurde: Handelt es sich bei den »Schriftzeichen« vielleicht (teilweise) um einfache Meißelspuren? Ich bin sehr gespannt auf die Meinung weiterer Experten dazu.
Jedenfalls ist es erstaunlich und vielleicht auch ein bisschen »zu schön, um wahr zu sein«, wie nun plötzlich eine Vielzahl von Puzzlestücke eine Sensationsmeldung ergeben. Und natürlich frage ich mich: Stammt eines dieser Puzzlestücke von unserer kleinen Expeditionsgruppe aus dem Schwabenland?
Peter van der Veen und Gershon Galil arbeiten übrigens bei der Entzifferung der sogenannten Fluchtafel vom Berg Ebal zusammen, siehe dazu mein Video: Folge 4: Der »verfluchte« Fund vom Berg Ebal
Timo Roller
Nachdem Professor Gershon Galil in der Nacht zum 16.12.2022 eine englische Version der Meldung veröffentlicht hat, wird nun auch in englischsprachigen Medien (Jewish Press) berichtet.
Meine Anfrage, ob die Zusendung meines Hinweises eine Rolle für die nun postulierten Funde gespielt habe, hat Galil in der Nacht kurz und bündig mit »No« beantwortet. Die weitreichenden Texte, die er nun veröffentlicht hat, scheinen im Moment keine Grundlage in den dazu gezeigten Bildern zu haben. Im erwähnten Text von Jewish Press ist ein Foto der bereits im Jahr 2008 aufgefundenen Inschrift zu sehen. Galils Behauptung, er habe auf der berühmten Shiloah-Inschrift weitere Schriftzeichen gefunden sowie auch in der Nische, in der diese sich einst befand, wurde bisher nicht mit Beweisen unterfüttert.
Mehrere Fachleute mit denen ich gesprochen habe, darunter der bekannte Archäologe und Epigraph Peter van der Veen, sind bisher sehr skeptisch und verlangen aussagekräftige Fotos. Van der Veen schrieb in einem Facebook-Kommentar: »Sorry, ich bin sehr bereit, hier etwas erkennen zu wollen, aber es erstaunt mich immer wieder, dass einige Kollegen mehr zu sehen glauben, als dies seriös begründet werden kann.«
Inzwischen wurde in weiteren – auch einflussreichen – Medien über die neuen Funde berichtet, in der Jerusalem Post, dem christlichen US-Sender CBN sowie auf den Archäologie-Blogs Ancient Origins und Arkeonews.
Laut dem Bericht in der Jerusalem Post besteht der Fundkomplex aus fünf (anfangs war von sieben die Rede) Inschriften des Königs Hiskia, die in Nischen gefunden wurden, die man bisher für leer gehalten hatte, in denen also einst Inschriften ähnlich der Shiloah-Inschrift hätten angebracht werden sollen, die aber offensichtlich unvollendet blieben. Galil proklamiert, dass man bei einer genaueren Untersuchung der bekannten Shiloah-Inschrift auf dieser zwei weitere Zeilen entdeckt hätte und zusätzlich weitere fünf Zeilen unterhalb der Stelle, wo sie sich ursprünglich befunden hatte! Sie habe also aus 13 Zeilen und insgesamt 428 Buchstaben bestanden, nicht nur aus sechs Zeilen und 200 Buchstaben. In der Jerusalem Post werden folgende 11 Zeilen einer zusammenfassenden Inschrift abgedruckt (von mir auf Deutsch übersetzt):
1. Hiskia, Sohn des Ahas, König von Juda
2. machte den Teich und den Kanal
3. im siebzehnten Jahr, am zweiten (Tag) des vierten (Monats)
4. des Königs Hiskia brachte der König
5. das Wasser in die Stadt durch einen Tunnel, der König leitete
6. Wasser in den Teich. Er schlug die Philister
7. von Ekron bis Gaza und hat dort eine Oreb-Einheit
8. der judäischen Streitmacht plaziert. Er hat die Götzenbilder zerbrochen und haute den Nehuschtan in Stücke
9. und er hat die Höhenheiligtümer entfernt und die Ashera niedergeschlagen. Hiskia, der König,
10. hat in seinen Schatzhäusern und dem Tempel Gottes gesammelt
11. sehr viel Silber und Gott, Parfüm und Salbe.
Professor Galil sieht Parallelen zu 2. Könige Kapitel 18, Verse 1, 4 und 8 sowie Kapitel 20, Vere 13 und 20. Die bisher veröffentlichten Fotos und Rekonstruktionszeichnungen scheinen solch umfangreiche Übersetzungen zumindest gewagt erscheinen zu lassen.
Nach diesen Veröffentlichungen von Shukron und Galil haben Ulrich Romberg und ich unsere eigenen Funde – Zeichen und Markierungen – nun veröffentlicht! Diese haben wir im Hiskiatunnel aufgefunden und mit Videos und Fotos dokumentiert. Sie sind von sehr unterschiedlicher Ausprägung und Qualität, Interpretationen oder gar Übersetzungen können wir nicht anbieten, dafür den Artikel »Hiskias Menetekel – Zeichen an der (Tunnel-)Wand« auf Academia mit etlichen Screenshots, Beschreibungen und Bildern.
Einige oder sogar die meisten der »Zeichen« könnten auch auf natürliche Weise entstanden sein. Zumindest aber die Pinselstriche, die sich ausgerechnet dort befinden, wo die beiden Tunnelhälften in der Tiefe des Felsens aufeinandertreffen, sollten durch Fachleute näher untersucht werden! Unsere Entdeckungen stammen bereits aus dem Jahr 2018, bisher hatten wir unsere Beobachtungen noch geheimgehalten, da wir eine Zerstörung befürchteten. Nach der nun erfolgten Veröffentlichung der anderen Inschriften an öffentlich zugänglichen Stellen halten wir aber diese Vorsicht nicht weiter für erforderlich.
In »The Times Of Israel« wurde inzwischen ein Beitrag veröffentlicht mit dem Titel (übersetzt): »Die Sensationsmeldungen von Bibelgeehrten über eine Hiskia-Inschrift lösen Aufschrei von Forschern aus«.
Darin heißt es, dass mehrere Akademiker die Proklamierung von sensationellen Funden beklagen würden, die ohne wissenschaftliche Veröffentlichungen und ohne handfeste Beweise in der Öffentlichkeit für Furore sorgen. Solche »Einmal-im-Leben-Funde« bräuchten ein solides wissenschaftliches Fundament. Das Statement der Forscher bezieht sich auf »revolutionäre Funde«, die in populären Magazinen und auf Social Media veröffentlicht würden, bevor es ein »Peer Review« gab. Es werden im Blog von Prof. Aren Maeir zwar keine Namen genannt, aber »The Times of Israel« bezieht die Forderungen eindeutig auf die Funde von Gershon Gilal, bei dem dann auch diesbezüglich nachgefragt wurde.
Galil verweist auf ein wissenschaftliches Buch über Inschriften von Hiskia, das »in den nächsten Monaten« erscheinen wird. Weitere Beweise bleibt er vorerst schuldig. Die Zweifel werden größer, ob es diese überhaupt gibt.