Der Teich Siloah und die Treppenstufen der Tempelpilger

von Timo Roller

10. März 2025

Im Alten und Neuen Testament hat der Siloah-Teich eine wichtige Bedeutung. Viele Jerusalembesucher kennen die Stelle, an der er ausgegraben wird. Doch Archäologie ist eine Wissenschaft, in der man mit Überraschungen rechnen muss. Vielleicht müssen wir den Siloah-Teich doch woanders suchen. – Dieser Artikel wurde im Magazin »Faszination Bibel«, Ausgabe 1/2025, veröffentlicht.

Die Psalmen 120 bis 134 sind »Wallfahrtslieder«. Wörtlich übersetzt steht in der Einleitung jeweils: »Lied der Hinaufgänge« oder »Lied der Stufen«. Was sind das für Stufen – und wo finden wir sie heute? Diese Frage anschaulich zu beantworten hätte eines der bedeutendsten archäologischen Projekte der Gegenwart werden können. Auch den Ort, von dem aus die Festbesucher nach Jerusalem hinaufzogen, würde man dann besuchen können. Was für eine Zeitreise wäre das – mit den eigenen Füßen auf »biblischem Boden« zu stehen!

Der Teich in der Davidsstadt

Zeev Orenstein ist Direktor für internationale Angelegenheiten der City of David Foundation. Er äußerte die Erwartung, dass in den nächsten Jahren der Teich Siloah am unteren Ende der Jerusalemer Davidsstadt vollständig ausgegraben und rekonstruiert werden sollte. Darüber hinaus möchte er den Treppenaufgang hinauf bis zum Tempelplatz im Bereich der Klagemauer wieder zugänglich machen. So würde es zahlreichen – jüdischen und 12 christlichen – Gläubigen in Zukunft möglich sein, nach Jerusalem hinaufzuziehen: wie zu Zeiten von David, Hiskia und Jesus. Zweimal war ich im Jahr 2023 an der Ausgrabungsstätte in der Davidstadt – und war sehr erstaunt über die raschen Fortschritte (Abb. 1). Obwohl nach dem 7. Oktober 2024 die existenzielle Bedrohung Israels in den Vordergrund gerückt ist und Archäologen zeitweise vom Militär zur Bergung von verkohlten Leichen aus dem Schutt überfallener Orte herangezogen wurden (siehe Faszination Bibel 1/2024, S. 6), ist die Arbeit inzwischen weitergegangen: Das seit einigen Jahren als »Teich Siloah« bekannte Areal ist in voller Fläche freigelegt und von großen (modernen) Steinquadern umrandet. Man erfasst auf einen Blick die Größe dieses monumentalen Beckens, von dem noch vor wenigen Jahren nur ein schmaler Randstreifen zu sehen war: die nordöstliche Stufenanlage des Teiches (Abb. 2), die ich zusammen mit dem Bibelexperten Ulrich Romberg nach einem Treffen mit dem bekannten Archäologen Ronny Reich im Jahr 2018 untersuchte.

Über die Erschließung des biblischen Areals und Orensteins Hoffnung wollte ich für Faszination Bibel gerne berichten. Doch nun hat das Thema aber durch kürzlich veröffentlichte Ausgrabungsberichte eine überraschende Wendung bekommen: Die Lage des Siloah-Teichs könnte womöglich an eine altbekannte Stelle »zurückwandern«!

Lebenswichtig und umkämpft: Die Gihon-Quelle

Wasser ist die Grundlage allen Lebens und die Gihon-Quelle war vor Tausenden von Jahren lebensspendend in der judäischen Wüste, als wohl schon während der Kupfersteinzeit die Stadt Jerusalem gegründet wurde. Laut der Bibel war »Salem« in der Zeit Abrahams besiedelt und Melchisedek war ihr Priesterkönig (1. Mose 14,18).

Die Zugänglichkeit der Quelle war über Jahrhunderte entscheidend, und von Zeit zu Zeit war dies eine große Herausforderung. Relativ weit unten gelegen, im Kidrontal, befand sie sich außerhalb der Stadtmauer und musste zusätzlich befestigt werden. Über einen Schacht konnten Wasserschöpferinnen zur Quelle gelangen. Die Jebusiter – ein kanaanitischer Stamm – hielten Jerusalem für unbezwingbar und riefen König David entgegen, der die Stadt erobern wollte: »In unsere Stadt wirst du nie hereinkommen! Selbst unsere Lahmen und Blinden könnten dich in die Flucht schlagen.« (2. Samuel 5,6). Und doch: Durch das Wasserschacht-System drangen Davids Krieger ein und machten Jerusalem zur Hauptstadt des Königreichs. Die Gihon-Quelle war auch religiös sehr bedeutsam: Nach 1. Könige 1,38-39 salbte der Priester Zadok Davids Nachfolger Salomo am Gihon zum neuen König.

Etwa 250 Jahre später, als die Assyrer mit ihrer überlegenen Kriegs- und Belagerungstechnik sich aufmachten, Juda anzugreifen, wurde für Jerusalem eine geniale und tollkühne Lösung ersonnen: Bergleute führten mittels eines Tunnels durch den Fels das Wasser ins Innere der Stadt – die Quelle selbst wurde versiegelt.

Der dem König Hiskia zugeschriebene 500 Meter lange Tunnel ist ein Meisterwerk antiker Bergwerkskunst. Von beiden Seiten trieben die Bergleute einen Stollen in den Fels und trafen sich schließlich in der Mitte (siehe Faszination Bibel 1/2011, S. 20-23). Das Wasser floss dann in das von einer großen Staumauer begrenzte Reservoir – innerhalb der befestigten Stadt. Im Johannesevangelium ist der Ort bezeugt, der hier vermutet wird: Jesus heilte einen Blindgeborenen und schickte ihn zum Siloah-Teich, um sich rituell zu reinigen (siehe Johannes 9).

Diese Reinigung war für Juden vor einem Besuch des Tempels unverzichtbar und da zur Jesuszeit- wie sich aus den Überlieferungen von Flavius Josephus rekonstruieren lässt – Hunderttausende oder gar Millionen von Pilgern nach Jerusalem kamen, muss der Teich Siloah ein größeres Becken gewesen sein.

Wo suchen wir den Teich?

Erst seit etwa 150 Jahren ist überhaupt klar, wo sich das Leben in der Stadt Jerusalem vor 4000 bis 2000 Jahren abgespielt hat: Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert hinein hielt man die Jerusalemer Altstadt auch für das historische Zentrum. Dementsprechend erinnern dort bis heute alttestamentliche Namen an vermeintlich biblische Orte: die Zedekia-Höhle, das Hiskia-Becken oder das Davidsgrab. Der britische Archäologe Charles Warren (1840-1927) äußerte dann 1867 die Vermutung, das ursprüngliche Jerusalem müsse außerhalb der heutigen Altstadt gesucht werden, südlich des Tempelbergs auf dem Bergsporn, der durch das Kidrontal und das Tyropoiontal begrenzt wird (siehe Abb. 4 auf Seite 20). Seither hat dort die Archäologie sehr viele Erkenntnisse über die Stadt Jerusalem zur Zeit des Alten Testaments gewonnen.

Noch vor 30 Jahren wurde der biblische Teich Siloah mit der Ain Silwan gleichgesetzt. Von dieser durch den Hiskiatunnel gespeisten »Quelle« ist heute ein schmales Becken übrig (Abb. 3). In römischer Zeit befand sich an dieser Stelle ein quadratisches Becken, das später mit einer byzantinischen Kirche überbaut wurde.

Durch einen Wasserrohrbruch und dadurch notwendige Baumaßnahmen im Jahr 2004 entdeckten die Archäologen Ronny Reich und Eli Shukron etwas weiter südlich ein weiteres und, wie sie vermuteten, viel größeres Becken. Bei ihren Ausgrabungen stießen sie auf mächtige Stufen aus römischer Zeit, 14 die offensichtlich den Teich umschlossen. Seither war der allgemeine wissenschaftliche Standpunkt: Dies sei der tatsächliche Siloah-Teich aus der Zeit der Bibel, ein großes rituelles Reinigungsbad für abertausende Pilger – der Ausgangspunkt der Pilger nun auch im 21. Jahrhundert nach der Vision von Ze'ev Orenstein.

Vom oberen Rand der Stufenanlage kann man die Ausgrabung wie von einer Galerie aus betrachten.

Aktuelle Ausgrabungen ...

Nur die nordöstliche Seite und eine Ecke kamen damals zum Vorschein, der Rest lag unter einem zugeschütteten und bewachsenen Areal, das nicht zugänglich war, denn es gehörte der griechisch-orthodoxen Kirche. Durch kirchen-interne Streitereien gab es viele Jahre keine Möglichkeit, den dort existierenden Obstgarten archäologisch zu erschließen, obwohl eine prinzipielle Zustimmung zur Grabung schon 2008 gegenüber Ronny Reich bekundigt wurde.

In jüngster Vergangenheit kam es dann aber zu einer Einigung und seit Anfang 2023 wurde die vollständige Fläche des sogenannten »Siloah-Teichs« in atemberaubender Geschwindigkeit ausgegraben. Das komplette Becken haben die Ausgräber inzwischen freigelegt. Leider kam dabei nicht die erwartete Fortsetzung der bisherigen Stufenanlage zum Vorschein, diese erscheint durch eine scharfe Kante wie abgeschnitten.

… und die neueste Untersuchung

Bisher stand die Vermutung im Raum (die auch ich teilte), dass hier einst Steine waren, die in vergangenen Jahrhunderten abgetragen wurden. Doch diese Sicht wurde durch die neuesten Grabungsanalysen von Nahshon Szanton widerlegt. Dieser Archäologe forscht an der Hebräischen Universität von Jerusalem und arbeitet für die Israelische Antikenbehörde. Er fand heraus: Die Stufen endeten schon immer an dieser Stelle, sie führten nach Auswertung der Grabungen auch nicht in den Teich hinein, sondern waren oberhalb der Mauer angebracht, die das einstige Becken umschloss. »Die bisherigen Hinweise zeigen, dass es keine Treppenstufen sind, sondern Sitzreihen«, vermutet Szanton.

Nach Auswertung antiker Quellen – vor allem der Schriften von Flavius Josephus – rücken Nahshon Szanton und seine Kollegen den Teich Siloah wieder an seinen alten Platz, den SilwanTeich, der seinen arabischen Namen damit doch historisch korrekt trägt ( die Konsonanten von Siloah und Silwan ähneln sich in semitischen Sprachen sehr). Auch der britische Archäologie-Architekt Leen Ritmeyer kann dem Vorschlag Szantons folgen, den Siloah-Teich wieder am ursprünglichen Platz zu sehen.

Der Silwan-Teich am Ausgang des Hiskia-Tunnels – wohl doch der Ort des Teichs Siloah.

Und was ist mit dem großen Becken mit der nur einseitig angebrachten Stufenanlage, modern als Birket al-Hamra bezeichnet? Dies sei zu Josephus' Zeiten als »Salomos Teich« bekannt gewesen – identisch mit »des Königs Teich« aus Nehemia 2,14 sowie dem »Garten des Königs« aus Nehemia 3,15, 2. Könige 25,4 und Jeremia 39,4 bzw. 52,7.

Wahrscheinlich wurde der Teich durch die Hasmonäer (2. oder 1. Jahrhundert v. Chr.) mit einer Stufenanlage versehen. Münzen aus dem ersten Jahrhundert vor Christus sowie die Maßeinheiten der ursprünglichen, mit grauem Putz überzogenen Stufen legen eine Datierung in vorrömische Zeit nahe. Die gemauerte Gestaltung der Stufen ist wahrscheinlich unter König Herodes dem Großen veranlasst worden, denn hier liegen römische Maßeinheiten zugrunde – das haben wir bei unserer kleinen Expedition 2018 selbst nachgemessen.

Nun sind in den letzten Monaten gegenüber dieser auf der Nordostseite erhaltenen Stufen moderne Steinblöcke aufgetürmt worden, um anschaulich einen Eindruck von der Größe des Beckens zu vermitteln. Hier hätte es sicherlich Platz genug gegeben, um dreitausend Menschen zu taufen, die sich nach der Pfingstpredigt des Petrus bekehrten (Apostelgeschichte 2,41) – doch auch der weniger als halb so große ursprüngliche Siloah-Teich am Ausgang des Hiskia-Tunnels hätte wohl dafür ausgereicht.

Kein Siloah-Teich mehr – was aber dann?

Birket al-Hamra wäre damit zunächst einmal ein Wasserspeicher gewesen, das zur Versorgung der Bevölkerung diente.

Bei Josephus ist an anderer Stelle von den zahlreichen Baumaßnahmen von König Herodes die Rede, die im Römischen Reich weit verbreitet waren, aber bei der frommen jüdischen Bevölkerung nicht gut ankamen: Amphitheater und Hippodrome (siehe Abb. 4 aufS. 20) widersprachen dem moralischen Empfinden des Judentums.

Nicht speziell erwähnt sind Bauwerke, die es bei den Römern ebenfalls gab, die aber bisher nicht in Jerusalem gesucht wurden, sogenannte Naumachien. Das waren große Wasserbecken, in denen Seeschlachten nachgestellt wurden. Szanton und seine Kollegen stellen die Hypothese auf, dass König Herodes eine solche Naumachie am alten »Königsteich« hatte bauen lassen, um Kaiser Augustus zu ehren, der sich 31 v. Chr. mit der Schlacht bei Actium die Alleinherrschaft über das Römische Reich sicherte. Dafür könnte das Reservoir dann mit der Stufenkonstruktion ausgestattet worden sein. Diese neue Hypothese bedarf nun weiterer Untersuchungen und muss sich in der wissenschaftlichen Diskussion bewähren.

Was aus Orensteins Zukunftsplänen nun werden soll, ist unklar. Die flacheren Stufen, die zum Tempel hinaufführen, gibt es. Doch der Siloah-Teich ist nun möglicherweise woanders. Und dort den Silwan-Teich zu vergrößern, ist aus baulichen Gründen nicht möglich. Daher wird auch in Zukunft – ähnlich wie bei der Via Dolorosa in der Altstadt Jerusalems – eine gewisse Portion Fantasie nötig sein, um sich die Landschaft zur Zeit Jesu oder zur Zeit der Psalmen vorstellen zu können.

Der Treppenaufstieg zum Tempelplatz liegt heute unterhalb des Bodenniveaus und muss unterirdisch freigelegt werden.

Dennoch vor Ort pilgern und beten?

Und doch: Man wird nicht weit entfernt von den authentischen Orten die »Lieder der Hinaufgänge« singen oder beten können. Etwa fünfzig Meter des Weges sind bereits zugänglich und zur Veranschaulichung wurde ein antiker Kiosk nachgebaut.

Die Vision von Ze'ev Orenstein mag zu groß gewesen sein, und doch hat er recht, wenn er sagt: Hier sei nicht nur Geschichte zu sehen, sondern eine »Fortsetzung der Geschichte«: Gläubige könnten in Zukunft auf den gleichen Stufen denselben Gott anbeten wie ihre Vorgänger viele Jahrhunderte zuvor. »Es ist hier das gleiche Jerusalem, die gleiche Bibel, der gleiche Glaube.«

Einer der wichtigsten eingangs erwähnten Wallfahrtspsalmen ist der Psalm 122, der aufruft, um Schalom – Glück und Frieden – für Jerusalem zu beten. »Wünschet Jerusalem Frieden! Es möge wohlgehen denen, die dich lieben!« (Psalm 122,6) – Wie wichtig ist dieser Segenswunsch in den letzten Monaten doch geworden! Er sollte überall auf der Welt schon jetzt gebetet werden – ganz unabhängig von allen archäologischen Erkenntnissen oder Visionen.

Quellen:

Brent Nagtegaal: Excavating the Pool of Siloam­—An Interview With Ze’ev Orenstein – https://armstronginstitute.org/879-excavating-the-pool-of-siloam-an-interview-with-zeev-orenstein

Ronny Reich: Excavating the City of David (Buch)

Timo Roller: Jerusalem: Expedition mit Tunnelblick – https://www.bibelabenteurer.de/html/190222-jerusalem-mit-tunnelblick.html

Nahshon Szanton et. al.: New archaeological discoveries in the excavations of Birket al-Hamra in Jerusalem – https://www.academia.edu/123584164/New_Archaeological_Discoveries_in_the_Excavations_of_Birket_al_Hamra_in_Jerusalem

Nahshon Szanton: Ritual Purification and Bathing: The Location and Function of Siloam Pool and Solomon’s Pool in Second Temple Period Jerusalem – https://publications.iaa.org.il/atiqot/vol113/iss1/3/

Leen Ritmeyer: The Pool of Siloam – https://www.ritmeyer.com/2024/01/15/the-pool-of-siloam/

 

 

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