[Factum 5/2011; veröffentlicht am 18.7.2011; erweiterte Version, zuletzt aktualisiert am 1.12.2011]
Nicht immer werden die spektakulärsten Funde der biblischen Archäologie im Boden des Heiligen Landes gemacht: Das Relieffragment eines Sockels aus der Zeit zwischen 1400 und 1500 v. Chr. könnte ein völlig neues – oder ein seit langem bekanntes, nämlich biblisches – Licht auf den Ursprung des Volkes Israel werfen. Seit 1913 lagert es unter der Archivnummer 21687 im Archiv des Ägyptischen Museums in Berlin.
Der Antikensammler und Archäologe Ludwig Borchardt (1863–1938) hatte das Stück einst bei einem ägyptischen Händler erstanden – die genaue Herkunft ist daher unbekannt. Aufgrund der archaischen Schreibweise der Hyroglyphen kann es jedoch relativ genau zugeordnet werden und ist mit Sicherheit deutlich älter als die sogenannte »Merenptah-Stele«, das bisher älteste bekannte Zeugnis einer »Israel-Inschrift« aus Ägypten. Diese wird gewöhnlich auf etwa 1200 v. Chr. datiert.
Der Münchner Theologieprofessor Manfred Görg holte das Fragment vor etwa 10 Jahren zum zweiten Mal aus dem Dornröschenschlaf. Schon 1975 nahm er es für seine Doktorarbeit in Augenschein, doch erst bei der erneuten Untersuchung fiel im auf, dass ein beschädigter Textblock den Begriff »Israel« enthalten könnte.
Das Reliefstück enthält drei Namensringe, die jeweils von einem Gefangenen gehalten werden. Über dieser Szene ist – ebenfalls fragmentarisch »einer, der auf seine Füße fällt« zu lesen. Auf den Namensringen selber stehen »Askalon«, »Kanaan« und ein dritter Name, der leider stark beschädigt ist. 2001 hat Manfred Görg vorgeschlagen, dass dieser Ort als »Israel« zu lesen sein könnte.
Schon bald wurde der Bibelarchäologe Peter van der Veen (Universität Mainz) auf diesen Vorschlag aufmerksam und erwähnt den Fund 2005 als »Potentiellen Hinweis auf ein Volk Israel in Kanaan vor konventionell 1200 v.Chr.« im Buch »Keine Posaunen vor Jericho?« (S. 35) In diesem Buch wird die sogenannte »Revidierte Chronologie Ägyptens« diskutiert und van der Veen sieht in Görgs Fragment ein Puzzleteil von großer Bedeutung: »Angesichts der vorliegenden Diskussion muss nicht betont werden, welche Brisanz einer Inschrift gut zweihundert Jahre vor der Merenptah-Stele zukommen müsste, die den Namen Israel enthält.«
War Görgs Arbeit bis dahin nur in deutsch erschienen und daher international auf wenig Aufmerksamkeit gestoßen, sollte nun ein Fachartikel in englischer Sprache publiziert werden. Spezialisten wie James Hoffmeier und John Bimson erhielten auf diese Weise die Gelegenheit, ihre Meinung zu den Erkenntnissen abzugeben.
So hat Peter van der Veen zusammen mit Manfred Görg und dem Ägyptologen Christopher Theis das Sockelfragment einer erneuten eingehenden Untersuchung unterzogen, deren Ergebnis nun als wissenschaftlicher Fachartikel im »Journal of Ancient Egyptian Interconnections« veröffentlicht wurde: Das Stück wurde bei unterschiedlichem Lichteinfall fotografiert und mit Aluminiumfolie wurden Abdrücke gemacht, um feinste Nuancen festzuhalten. Diese Detailarbeit war vor allem an der Bruchstelle entscheidend, denn der Namensring mit dem mutmaßlichen Text »Israel«, ist nur noch zu etwas mehr als der Hälfte vorhanden – der rechte Teil ist unwiederbringlich verloren. Die Vermutung Görgs scheint sich jedoch bestätigt zu haben und die Hieroglyphe im Namensring rechts oben kann als Geier-Hieroglyphe rekonstruiert werden (siehe Zeichnung). Da im Ägyptischen der Laut »L« nicht wiedergegeben werden kann, wurde er gewöhnlich durch ein »R« repräsentiert. Eben dieser Buchstabe befindet sich im Namensring und somit kann der Name »Ischra-El« gelesen werden.
Der Laut »Sch« wird in der wissenschaftlichen Arbeit des Teams nach einem Einwurf von James Hoffmeier – Autor des Buches »Die antike Welt der Bibel« – ausführlich diskutiert. Durchaus gebe es auf ägyptischen Inschriften Beispiele, die nachweislich »S« als »Sch« abbilden – obwohl ausgerechnet die Merenptah-Stele ein »S« in »Israel« wiedergibt.
Das Forscherteam ist deshalb inzwischen überzeugt davon, dass es sich bei dem Relief um den ältesten im Original erhaltenen schriftlichen Nachweis des Namens »Israel« handelt, denn das Fragement, das wahrscheinlich Teil eines Podestes war, stammt nach konventioneller Datierung aus der Zeit um 1400 v. Chr. Damit ist das Stück älter, als alles, was je über Israel gefunden wurde – und vor allem 200 Jahre älter als das Modell der Spätdatierung der Landnahme Kanaans, nachdem das Volk Israel um das Jahr 1200 v. Chr. entstanden ist.
Inzwischen sind auch einige säkuläre Publikationen auf die Sache aufmerksam geworden: Die Online-Plattform »spektrumdirekt« des populären Magazins »Spektrum der Wissenschaft« widmete der Entdeckung einen längeren Artikel mit dem Titel »Auszug aus Ägyptens Archiven« und auch das »Geo-Magazin« erwähnte das Granitfragment.
Die Tragweite des Fundes für die Bibelforschung ist groß: Falls »Israel« tatsächlich auf einem 3400 Jahre alten Sockelfragment zu lesen ist, scheiden die beiden verbreitetsten Interpretationen des Exodus-Geschehens schlagartig aus:
1. Die sogenannte Albright-Synthese nimmt – entgegen der biblischen Datierung – eine Landnahme um 1220 v.Chr. an, da hier scheinbar die Überlieferung besser zur archäologischen Fundlage passt. Ursprünglich war diese Theorie angetreten, um die biblische Wahrheit zu retten, die sich aus den Unstimmigkeiten der Fundsituation in Jericho ergeben hatte: Die von Kathleen Kenyon gefundenen Zerstörungsschichte schienen zu belegen, dass Jericho zur Zeit der Landnahme schon seit längerer Zeit keine Stadtmauer mehr hatte und auch andere Orte Kanaans um 1400 v. Chr. nicht besiedelt waren.
2. Inzwischen ist aber auch diese Spätdatierung der Landnahme von maßgeblichen Wissenschaftlern für gescheitert erklärt worden und so gehen heute die meisten Forscher davon aus, dass die Landnahme schleichend geschah und sich das Volk Israel im Laufe der Zeit herausbildete. Mit der üblichen Ansicht, dass die biblischen Geschichten erst sehr viel später niedergeschrieben wurden, passt dies bestens zusammen. Das Calwer Bibellexikon behauptet: »Die biblische Darstellung von der Eroberung Jerichos durch Josua ist eine Erzählung, die erklären will, wie dieser Ort in die Hand der Israeliten kam: Nicht durch eigene kriegerische Leistungen, sondern allein durch ein Geschenk Gottes. Der Bibeltext lässt sich somit nicht historisch auswerten, auch die Suche nach der unter Josua zerstörten Mauer wird damit hinfällig.« (S. 642) Der Archäologe Israel Finkelstein geht noch weiter und dehnt die Unstimmigkeiten zur Zeit der Landnahme auf das vereinte Königreich in Israel aus. Ein großer Teil des Alten Testaments wird von ihm in das Reich der Mythen und Legenden verbannt.
Beide Thesen können eine »Israel«-Inschrift aus dem Jahr 1400 v. Chr. nicht erklären. Somit bliebe nur die biblische untermauerte Frühdatierung der Landnahme.
Peter van der Veen, dessen Anliegen es ist, nach Übereinstimmungen zwischen Archäologie und Bibel zu suchen, hat auch schon seit längerem eine Lösung für die Exodus-Frage parat, die die Diskrepanz zwischen biblischem Bericht und der archäologischen Fundsituation auflösen könnte:
»Die Stadt Jericho wurde durch ein schweres Erdbeben und durch Feuer zerstört. Wir wissen auch, wann das passierte, nämlich während der Gerste-Ernte, genau wie es in der Bibel beschrieben wird. Die Übereinstimmung der Situation am Ende der Mittleren Bronzezeit passt genau zur biblischen Geschichte.«
Dieses Ende der Mittleren Bronzezeit, das normalerweise auf 1550 v.Chr. datiert wird und damit nach der herkömmlichen Chronologie 150 Jahre vor Jerichos Zerstörung liegt, verschiebt er im Rahmen der »Revidierten Chronologie« genau um diese Zeit und erreicht damit die perfekte Übereinstimmung zwischen Archäologie und Bibel. Die »Revidierte Chronologie«, die in Deutschland vor allem durch van der Veens ehemaligen Mitstreiter David Rohl mit seinem Werk » Pharaonen und Propheten« einem größeren Publikum vorgestellt wurde, bringt noch etliche andere Ungereimtheiten zwischen archäologischen Funden und biblischen Berichten miteinander in Einklang. Leider wurden diese Thesen von der Fachwelt bisher weitgehend abgelehnt.
Für die Überarbeitung der Chronologie gibt es allerdings tatsächlich einige gewichtige Belege: Vor allem in der sogenannten Dritten Zwischenzeit des Alten Ägypten scheinen einige Dynastien nicht nacheinander, sondern teilweise parallel geherrscht zu haben. Hier sind problemlos einige Jahrzehnte bis Jahrhunderte an Verkürzung der ägyptischen Geschichte unterzubringen. Peter van der Veen forschte mit Kollegen im englischen Sprachraum wie Peter James und John Bimson in dieser Richtung weiter und mit den Büchern »Biblische Archäologie am Scheideweg?« und »Keine Posaunen vor Jericho?« gibt es zwei ausführliche Bände zum Thema. Inzwischen, so van der Veen »scheint die Zeit reif dafür zu sein und einige namhafte Wissenschaftler können sich mit der Idee anfreunden, den Weg einer Überarbeitung der traditionellen Chronologie zu gehen.«
Und das Sockelfragment mit der »Israel«-Inschrift könnte einen entscheidenden Beitrag dazu leisten.
Unsere übliche Zeitskala ist eine rein mathematische Achse, die ausgehend von Christi Geburt spiegelbildlich zu unserer Zeitrechnung in die Jahrhunderte und Jahrtausende vor Christus zurückgeht.
Dies ist eine rückwirkende Definition – antike Schriftsteller haben naturgemäß anders datiert, meist anhand der jeweils herrschenden Könige.
Zahlreiche Quellen und Inschriften haben es ermöglicht, vor allem im Alten Ägypten viele dieser relativen Datierungen aneinanderzureihen und durchgängige Zeitstrahlen zu bilden. Anhand einiger astronomischer Daten wurden sie quasi in die absolute Skala eingehängt – diese Fixpunkte sind allerdings nicht selten umstritten.
Da es in Ägypten sehr viele Fundstellen gibt, an denen datierbare Inschriften zusammen mit Keramik gefunden wurden, lassen sich die verschiedenen Herrscherdynastien den archäologischen Fundschichten zuordnen, also der stratigrafischen Einteilung in die einzelnen Phasen der Bronzezeit und der Eisenzeit. So ist ein sehr vollständiges Gerüst für die Datierung keramischer Funde möglich, das sich auch auf die Stratigrafie im Heiligen Land übertragen lässt. Bei organischen Fundstücken kann eine Vergleichsmessung anhand der C-14-Methode vorgenommen werden, die allerdings auf einen Zeitraum von drei Jahrtausenden größere Ungenauigkeiten birgt.
Das Alte Testament lässt aufgrund etlicher Zeitangaben eine Zurückrechnung bis in die biblische Urgeschichte zu. Durch einige Synchronismen zwischen den Kulturen – zum Beispiel dem Feldzug des Pharaos Schischak aus dem 1. Buch der Könige Kapitel 14, der mit Schoschenk I., dem Begründer der 22. Dynastie in Ägypten gleichgesetzt wird – hat man diese Skala mit der ägyptischen zu korrelieren versucht. Da leider im heutigen Israel vergleichsweise wenige Inschriften gefunden werden, können die Archäologen so anhand der Keramik, die etwa zeitgleich in Ägypten verwendet wurde, ziemlich genau sagen, wie alt eine Fundschicht ist.
Anhand einer solchen Datierung müsste sich doch nun beweisen lassen, ob die biblischen Geschichten wahr sind!
Im 1. Königsbuch 9 Vers 15 heißt es: »Und so verhielt sich's mit den Fronleuten, die der König Salomo aushob, um zu bauen des HERRN Haus und sein Haus und den Millo und die Mauer Jerusalems und Hazor und Megiddo und Geser.«
Als in Hazor, Megiddo und Geser genau identische Sechs-Kammern-Tore identifiziert werden konnten, folgerte der Archäologe Yigael Yadin, dass diese König Salomo zugeschrieben werden müssten.
Ein Kollege von Yadin, Israel Finkelstein, verschob in jüngster Zeit die eisenzeitliche Periode der Sechs-Kammern-Tore um bis zu 100 Jahren auf das 9. Jahrhundert, in die Zeit der Könige Omri und Ahab. Diese Idee ist nicht neu: Bereits in den 1930er Jahren hatten britische Archäologen für das spätere Datum der Tore plädiert. Zurück in der Zeit des Salomos fand Finkelstein dagegen nichts an prächtigen Bauwerken!
Nach der »Revidierten Chronologie« Ägyptens hat er damit tatsächlich recht. Nach biblischen Befund passen die Tore aber gut in die Zeit Ahabs und Omris. Dann müsste sich aber auch der Übergang von Bronzezeit zur Eisenzeit in die Regierungszeiten Davids und Salomo verschieben. Und hier sind wiederum Überreste größerer Stadtstrukturen zu finden, die bisher den vor Davids Eroberungen hier lebenden Kanaanitern zugeschrieben wurden. Auch eine Palastruine in Jerusalem, die eigentlich für David zu früh wäre, passt plötzlich nahezu perfekt.
Für Jericho und die Landnahme bringt die »Revidierte Chronologie« eine sensationelle Übereinstimmung zu Tage: die von Kathleen Kenyon auf 1550 v.Chr. datierte zerstörte Mauer würde sich auf etwa 1400 verschieben, also genau in die Zeit, in der Josuas Posaunen nach biblischer Datierung die Mauern Jerichos zum Einsturz gebracht haben! Damit passt der archäologische Befund wieder zur ursprünglichen Zeitangabe und auch die Fundsituation in den anderen eroberten Städten passt gegenüber Albrights Synthese viel besser!
Das Alter des Sockelfragments wäre natürlich durch die »Revidierte Chronologie« ebenso betroffen: Die 18. Dynastie, der es aufgrund seiner Schreibweise zugeordnet wird, ist nach der Korrektur auch um etwa 150 Jahre verschoben und würde auf das 13. Jahrhundert v.Chr. datiert werden müssen. Da die »Revidierte Chronologie« eine Spätdatierung der Landnahme von vornherein überflüssig macht, ist dies jedoch belanglos. Zudem datiert das Sockelfragment nicht die Zeit der Landnahme, sondern bestätigt lediglich, dass Israel schon damals als etablierter Feind Ägyptens neben »Askalon« und »Kanaan« ernstgenommen wurde. Seit wann Israel in Kanaan lebte, wird vom Sockelfragment nicht beantworte – nur dass es schon sehr viel früher gewesen sein muss als bisher angenommen wurde.