[Entscheidung 4/2011; zuletzt aktualisiert am 28.3.2012]
Ist das Turiner Grabtuch echt? Wenn ich diese Möglichkeit ausschließen würde, wäre ich nicht hier! Hier in Turin. Es ist der 10. Mai 2010, mitten in der Nacht. Die Fahrt war lang und anstrengend, doch nun bin ich im Zentrum der norditalienischen Stadt angekommen. Die Mission ist klar: das Grabtuch sehen und fotografieren. Vor der Messe, die um 7 Uhr anfangen wird, versuche ich, im Auto noch eine Weile zu schlafen. Bei Tagesanbruch stehe ich auf und beginne, mich in der Stadt zu orientieren, gehe zur Kathedrale. Das Leben erwacht, der Blumenschmuck am Treppenaufgang wird zurechtgemacht, die Polizia bringt sich in Stellung. Dann erlebe ich die Messe, sehe das Tuch. Es ist beeindruckend. Diskret fotografiere und filme ich. Danach stelle ich mich an, mein reservierter Termin im endlosen Pilgerstrom ist gleich um 8 Uhr. Die Warterei ist so früh relativ kurz und entspannt.
Schließlich darf die Menge in drei Reihen direkt am Tuch vorbei. Kameras werden gezückt, blitzen ist verboten. Als einziger weit und breit habe ich ein Stativ dabei. Kaum am Tuch vorbei, verläuft sich das Gedränge. Ich finde leicht seitlich eine gute Position zum ausgiebigen Fotografieren. Mission erfüllt. Schöne Fotos. Nach insgesamt 24 Stunden und 1.200 Kilometern bin ich wieder zu Hause. Verrückter Trip, aber er hat sich gelohnt!
Warum kommen Pilger zu einer Fälschung? Als erster historischer Nachweis für das Grabtuch gilt ein Pilgermedaillon aus der Zeit um 1350. Eine Radiokohlenstoffdatierung, die 1988 durchgeführt wurde, ergab für das Tuch einen Entstehungszeitraum zwischen den Jahren 1260 und 1390. Eine perfekte Übereinstimmung! Das Tuch war entlarvt als das Werk eines Reliquienfälschers aus dem 13. oder 14. Jahrhundert. Ende der Diskussion. Wer seither noch an die Echtheit des Tuches glaubt, muss wohl zu den unbelehrbaren religiösen Spinnern gehören, die sich nicht durch handfeste Fakten überzeugen lassen.
Aber warum kamen dann zwischen dem 10. April und 26. Mai 2010 über zwei Millionen Besucher nach Turin, um das Tuch zu sehen? Ich war ja selbst darunter! Die Befürworter der Echtheit des Grabtuches scheinen Argumente zu haben, die möglicherweise die Gültigkeit der C14-Datierung aufwiegen können.
Was ist das Turiner Grabtuch? Die berühmte Reliquie ist 4,36 Meter lang und 1,10 Meter breit. Das Tuch besteht aus Leinen, gewebt in charakteristischem Fischgrätmuster. Im Laufe der Geschichte hat das Grabtuch gelitten und einige Zerstörungen fallen sofort ins Auge: Ein Brand im Jahr 1532 hätte das Tuch fast zerstört. Deutlich sind symmetrische Löcher und Löschwasserflecken erkennbar. Eine weitere Brandkatastrophe überstand das Tuch 1997 dagegen unversehrt: Der Feuerwehrmann Mario Trematore rettete es heldenmütig aus der brennenden Turiner Kathedrale.
Das Besondere am Grabtuch ist das Abbild eines männlichen Körpers, der in seiner vollen Länge – sowohl von vorne wie auch von hinten – zu sehen ist. Nach Schätzungen von Forschern war der Mann etwa 1,75 bis 1,80 Meter groß, knapp 80 Kilogramm schwer und 30 bis 35 Jahre alt. 1898 machte der Amateurfotograf Secondo Pia das erste Foto.
Als er die Fotoplatten entwickelte, rief er schockiert: »Mein Gott, ich blicke in das Antlitz des Herrn!« – Das Gesicht des Mannes auf dem Grabtuch sah im Negativ außergewöhnlich lebensecht aus. Neben dem negativen Körperbild befinden sich Blutspuren auf dem Tuch, die zu den Wunden eines Gekreuzigten passen. Wie gelangten Körperbild und Blutspuren auf das Tuch? Diese Frage hat schon viele Forscher beschäftigt.
Woher stammt das Grabtuch? Das Tuch wird selten der Öffentlichkeit gezeigt, erst 2025 soll es erneut zum Vorschein kommen. Untergebracht ist es in einem mit dem Edelgas Argon gefüllten Behälter in einer Seitenkapelle der Turiner Kathedrale. In Turin ist es seit dem 14. September 1578, davor war es in der französischen Stadt Chambéry, wo es beinahe dem Brand von 1532 zum Opfer gefallen wäre. Erstmals historisch nachweisbar tauchte es 1357 in der kleinen Gemeinde Lirey in der Region Champagne-Ardenne auf.
Wenn es nach den Ergebnissen der C14- Datierung geht, ist dies der Beginn der Geschichte des Tuches. Der Bischof von Troyes, der es 1389 beim Papst als Fälschung meldete, nannte es ein »mit Schlauheit gemaltes Tuch, auf das durch geschickte Kunst das zweifache Bild eines Mannes gemalt wurde«. Doch wie gelang es einem Fälscher im Mittelalter, ein derartiges Bildnis entstehen zu lassen, das sich so sehr von allen anderen Kunstwerken jener Zeit unterscheidet? Das ist die Frage, der sich auch Skeptiker stellen müssen, die sich spätestens seit der C14-Datierung offensichtlich der Anschuldigung des Bischofs anschließen.
Mehrere Rekonstruktionsversuche mittels verschiedener Methoden wurden unternommen, um diese Frage zu klären. Wirklich überzeugen kann keine. 2009 rieb ein italienischer Chemiker, Professor Luigi Garlaschelli, die Umrisse eines Studenten mit einer säurehaltigen Pigmentpaste ab und erzeugte damit einen dem Grabtuch durchaus ähnlichen Abdruck, doch als »endgültiger Beweis« für eine Betrügerei kann die Nachbildung wohl nicht gelten. Auch die Genialität Leonardo da Vincis wurde angeführt, um das Körperbild zu erklären – doch der lebte von 1452 bis 1519, zu dieser Zeit ist das Grabtuch längst historisch belegt.
Ist das Tuch doch älter? 1204 beschrieb der junge Ritter Robert de Clari ein Tuch, das er auf dem Kreuzzug nach Konstantinopel sehen konnte und das einen »Abdruck der Figur des Leichnams Christi von vorne und von hinten« zeigte. Das sogenannte Pray-Manuskript aus der Zeit um 1192 zeigt die Grablegung Christi in auffallend ähnlicher Weise wie das Abbild auf dem Tuch. Selbst das Fischgrätmuster und kleinere Brandlöcher des Turiner Tuchs sind als Bildmotive wiederzuerkennen!
Für eine frühere Zeit ist die Geschichte des Tuches schwer rekonstruierbar. Recht einleuchtend erscheint jedoch die These des englischen Schriftstellers Ian Wilson, das Turiner Grabtuch mit dem »Bild von Edessa« gleichzusetzen. Dieses soll der Jünger Thebbedäus um das Jahr 30 n. Chr. nach Edessa zu König Abgar V. gebracht haben, mit dem angeblich Jesus selbst Briefkontakt hatte. Die Stadt Edessa liegt in der Türkei, auf ihren Ruinen wurde das heutige Sanliurfa erbaut. In seiner Argumentation stellt Wilson einen erkennbaren Einfluss der Grabtuch-Abbildung auf die Kunst des ersten Jahrtausends heraus. Erhalten gebliebene Kopien des Edessa-Bildes zeigen zwar nur das Gesicht von Jesus, dies erklärt Wilson jedoch anhand erkennbarer Falze auf dem Grabtuch: Auf dem zusammengelegten Stoff sei nur der Kopf zu sehen gewesen. Eine wichtige Bestätigung sieht er in der griechische Bezeichnung »Tetradiplon« in einer Handschrift aus dem 6. Jahrhundert für das Edessabild, »was in der Wortkombination also eindeutig ›viermal doppelt gefaltet‹ bedeutet«. Somit ließe sich die Geschichte des Grabtuchs bis in die Zeit Jesu zurückverfolgen. Im Johannesevangelium gibt es zwei Stellen, die Jesu Leichentücher erwähnen, jedoch nichts über deren Verbleib aussagen: »Da nahmen sie den Leichnam Jesu und banden ihn in Leinentücher mit wohlriechenden Ölen, wie die Juden zu begraben pflegen.« (1) »Da kam Simon Petrus ihm nach und ging in das Grab hinein und sieht die Leinentücher liegen, aber das Schweißtuch, das Jesus um das Haupt gebunden war, nicht bei den Leinentüchern liegen, sondern daneben, zusammengewickelt an einem besonderen Ort.« (2)
Das Blut Christi auf dem Tuch? An Stirn und Hinterkopf, auf der Brust sowie an den Handund Fußgelenken des abgebildeten Körpers lassen sich Blutspuren erkennen. Sie unterscheiden sich vom Körperbild in ihrem Charakter und ihrer Beschaffenheit. Die blutenden Wunden sprechen eine deutliche Sprache über die grausame Misshandlung, die der Tote erleiden musste. Kleinere Male lassen auf eine Geißelung schließen. Die Wunden an Händen und Füßen deuten auf die Kreuzigung als Todesursache hin. Der amerikanische Gerichtsmediziner Frederick Zugibe hat sich jahrelang mit dem Grabtuch beschäftigt: »Aus der Sicht der forensischen Pathologie stimmt das Blut absolut mit dem eines Gekreuzigten überein.«
Untypisch für ein Kreuzigungsopfer, jedoch in den Evangelien für die Hinrichtung Jesu eindeutig bezeugt, ist die Wunde an der Seite. Auch die Wunden am Kopf sind einzigartig und legen die Vermutung nahe, dass dem Opfer eine Dornenhaube (und keine Dornenkrone) aufgesetzt worden war. Die Wundspuren bestehen nach den Angaben einiger Forscher eindeutig aus menschlichem Blut. Der italienische Gerichtsmediziner Professor Pierluigi Baima-Bollone behauptete sogar, er habe die Blutspuren der Blutgruppe AB zuordnen können. Allerdings gibt es auch ernstzunehmende Zweifel an diesem Befund und somit kann nach Wilson »die Identifikation der ›Blutflecken‹ auf dem Grabtuch als echtes Blut nicht als erwiesen gelten.«
Die Entstehung des Körperbilds, das wie bereits erwähnt am besten im Negativ zu sehen ist, ist nach wie vor sehr rätselhaft und beschäftigt die Grabtuchforscher am meisten. Im Oktober 1978 wurde das Tuch der intensivsten Untersuchung seiner Geschichte unterzogen. Alle wissenschaftlichen Analysen ergaben, dass sich offensichtlich keine Farbpigmente auf dem Gewebe befinden. Die professionelle Künstlerin Isabel Piczek, die das Bildnis sehr genau untersucht hat, ist überzeugt, »dass selbst heute niemand in der Lage wäre, ein Negativbild anzufertigen, das auch nur annähernd die Vollkommenheit des Grabtuches aufweisen würde.« Das Bild auf dem Grabtuch ist beispiellos. Auch wenn man wüsste, wie es genau entstand: durch eine einzigartige Maltechnik, eine Art Fotografie, durch thermische Einwirkungen oder durch Dämpfe – es ist kein anderes ähnliches Bildnis bekannt!
Fälschung: Ja oder nein? Offenbar scheint es immerhin denkbar, dass die Entstehung des Körperbildes und auch der Blutspuren auf natürliche Weise erklärt werden kann. Doch sollte es wirklich einem Fälscher im Mittelalter gelungen sein, zusätzlich zum geheimnisvollen Körperbild anatomisch und medizinisch korrekte Blutspuren auf das Tuch aufzutragen? Oder sollte ein zu irgendeiner Zeit an irgendeinem Ort Gekreuzigter in das Tuch gelegt worden sein und diese einzigartigen Abdrücke hinterlassen haben?
Spuren der Auferstehung? Ein übernatürliches Wunder als Erklärung anzunehmen, fällt vielen schwer. BestsellerAutor Ian Wilson stellt sich einen thermonuklearen Strahlenblitz vor, der einen permanenten Schatten in das Tuch brannte, ähnlich den Beobachtungen, die in Hiroshima nach dem Abwurf der Atombombe gemacht wurden. Er beschreibt den Vorgang am Ostermorgen – rein hypothetisch, wie er betont – so: »In der Dunkelheit des Grabes in Jerusalem lag der tote Leib Jesu, ungewaschen, mit Blut bedeckt, auf einer Steinplatte. Plötzlich bricht eine geheimnisvolle Kraft aus ihm hervor. In diesem Moment entmaterialisiert sich das Blut, vielleicht durch den Strahlenblitz aufgelöst, während sein Bild und das des Leibes sich unauslöschlich in das Grabtuch einbrennen, der Nachwelt buchstäblich eine Momentaufnahme von der Auferstehung hinterlassend.« Zumindest die Vorstellung ist faszinierend!
Und die C14-Analyse? Die Datierung in die Zeit zwischen 1260 und 1390 scheint auf sicherem wissenschaftlichem Fundament zu stehen, doch die Zuverlässigkeit der Ergebnisse wurde wegen folgender Faktoren angezweifelt:
Trotz der Übereinstimmung von Radiokohlenstoffdatierung und dem historischen Auftauchen in Frankreich ist der Beweis einer Fälschung nicht erbracht. Die Zweifel an der C14-Untersuchung, die Frage nach der Methode des mutmaßlichen Fälschers sowie Wilsons Edessa-Hypothese – die Möglichkeit bleibt, dass das Turiner Grabtuch tatsächlich den Leib des auferstandenen Heilands umhüllt hat. Man muss dies nicht glauben – aber man kann es. Man darf es!
Was heißt das für meinen Glauben? Im Zusammenhang mit der Kreuzigung und der Auferstehung von Jesus gibt es noch andere Gegenstände, die möglicherweise authentisch sind (siehe unten). Die Gegenstände haben sicherlich keine grundlegende Bedeutung für mich als Christen – wohl aber die Ereignisse, von denen sie möglicherweise zeugen: die Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi. Paulus schreibt im Korintherbrief: »Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsre Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich.« (3) Im gleichen Kapitel verweist er auf die Jünger und auf weitere Zeugen der Auferstehung: »Danach ist er gesehen worden von mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal, von denen die meisten noch heute leben.« (4)
Der christliche Glaube ist in der Geschichte verwurzelt. Er konnte und kann sich auf Zeugen und materielle Hinweise stützen. Diese haben aber geringere Bedeutung als das persönliche Wirken Gottes im Leben eines Menschen, das durch Wort und Tat ein lebendiges Zeugnis gibt. Es liegt an jedem Einzelnen, sich auf das Wagnis des persönlichen Glaubens einzulassen. Manch einem hilft es dabei, wenn dieser Glaube fassbar wird: durch einen heiligen Ort wie Jerusalem, einen archäologischen Fund aus der Zeit Davids oder ein Tuch, das uns möglicherweise das Bild und das Blut Jesu bewahrt hat. Einerseits sagte Jesus zum Zweifler Thomas: »Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!« (5) Andererseits ließ er ihn seine Wunden berühren zum Beweis für das, was geschehen war.
Jesus möchte Ihnen in Ihrem Leben begegnen. Blicken Sie ihm ins Angesicht. Er ist nicht tot, sondern auferstanden! Er lebt noch heute. Vielleicht zeugt das Turiner Tuch davon. Noch mehr aber die Worte der Bibel und das Bekenntnis der weltweiten christlichen Gemeinde.
(1) Johannes 19,40
(2) Johannes 20,6–7
(3) 1. Korinther 15,14
(4) 1. Korinther 15,6
(5) Johannes 20,29