In diesem Kapitel möchte ich am Beispiel einiger weniger Punkte in der Menschheitsgeschichte ausführen, welche Rolle der Berg Cudi durch die Jahrhunderte gespielt haben könnte. In diesem Rekonstruktionsversuch befinden sich noch viele Lücken, die ich aber im Laufe der Zeit schließen möchte. Dazu ist aber noch einige Recherche und Forschungsarbeit notwendig. [Mein Buch »Das Rätsel der Arche Noah« schließt einige, aber nicht alle Lücken.]
Folgende Ereignisse zeige ich auf:
Die Überlieferung der Ereignisse nahm (über die Söhne Noahs und auch mit der Ausbreitung nach dem Turmbau zu Babel) verschiedene Wege: Wahrscheinlich ist der unverfälschte Bericht in der Bibel zu finden, obwohl natürlich in der Bibel-Babel-Diskussion viele eine andere Meinung geäußert haben. Nach den Ausführungen von Werner Papke in »Die Sterne von Babylon« scheint das Gilgamesch-Epos, das die Sintflut ausführlich und mit vielen Parallelen zur Bibel beschreibt, jedoch eine astronomisch bzw. astrologisch ausgeschmückte Erzählung zu sein, die manche Verfälschungen beinhaltet, die mit dem babylonischen Welt- und Götterverständnis zusammenhängen.
An dieser Stelle ist noch viele weitere Forschung nötig, vor allem die Zusammenarbeit von Geologen, Archäologen und Astronomen. Geschichtsschreiber Josephus schließlich hat verschiedene damals noch vorhandene Quellen (vor der Zerstörung der Bibliothek von Alexandrien!) zusammengestellt und liefert uns ein breites Spektrum von überlieferten Daten.
Konkrete Fragen, die für die Zeit direkt nach der Flut noch beantwortet werden müssen, die aber mit dem Berg Cudi wesentlich einfacher zu klären sein könnten, sind:
Archäologische Forschungen in der Gegend um den Cudi sind rar und derzeit [2010] auch überhaupt nicht möglich, doch Spuren sehr früher Besiedlung sind immerhin vorhanden.
Den Zusammenhang zwischen der Geschichte des assyrischen Königs Sanherib und dem Berg Cudi hat vor allem David Rohl ausgearbeitet. Zusammen mit Bill Crouse habe auch ich mich ausführlich mit dieser Thematik beschäftigt.
Zunächst einmal gibt es hier eine verwirrende Vielfalt von Bezeichnungen, die mit der Silbe »Ni-« beginnen: Der Sintflutberg im Gilgamesch-Epos heißt Nizir, nach neuerer Übersetzung Nimusch. Sanherib erwähnt bei der Beschreibung seines Fünften Feldzugs einen Berg Nipur, auf dessen Gipfel er Städte(!) erobert hat. Dieselben Inschriften, wie auf dem sogenannten Taylor-Prisma, das den Feldzug schildert, befinden sich auf Flachreliefs direkt am Berg Cudi. L.W. King hat also den Cudi mit dem Berg Nipur gleichgesetzt. Auch Assurnasirpal hat einen Berg Nibur, der sich direkt am Tigris befindet. Die Schreibweise Nipur/Nibur unterscheidet sich in Keilschrift nur durch einen Punkt.
Interessant ist, dass die im Alten Testament erwähnte Gottheit Nisroch, die Sanherib nach seiner Rückkehr von der verlorenen Belagerung Jerusalems in Ninive anbetet, laut jüdischer Midrasch in Zusammenhang mit einem von Sanherib verehrten Stück der Arche Noah steht.
Hier nun der Abschnitt, in dem King den Nipur mit Cudi identifiziert: »Die Identifikation des Berges Nipur mit dem Judi Dagh ist zweifelsfrei. Vor allem, da die Inschriften am Berg sich nur auf die erste Hälfte der Fünften Kampagne beziehen, die gegen die befestigten Städte auf dem Berg Nipur gerichtet war. Und die Texte selber enthalten den eindeutigen Hinweis, dass sie auf dem Berg Nipur angebracht wurden.«
Wahrscheinlich hat der babylonische Geschichtsschreiber und Priester Berosus, der sicherlich das Gilgamesch-Epos mit seiner Sintfluterzählung gut gekannt hat, die Angaben an die zu seiner Zeit üblichen Ortsnamen angepasst. Josephus zitiert den im dritten vorchristlichen Jahrhundert lebenden Berosus und schreibt: »Es heißt, dass noch jetzt in Armenien auf dem Kordyäergebirge ein Teil jenes Fahrzeuges vorhanden sei, und dass manche Harz davon entnehmen, um sich desselben als Zaubermittels gegen drohende Übel zu bedienen.«
Im Gilgamesch-Epos selbst heißt es: »Das Schiff trieb nach dem Berge Nissir. Der Berg Nissir hielt das Schiff und ließ es nicht wanken.« Nach neuerer Übersetzung durch Prof. Dr. Stefan Maul heißt der Berg »Nimusch«. Diese Bezeichnung könnte später Berosus an die zu seiner Zeit üblichen Ortsnamen angepasst haben.
Sehr viel weiter bringt uns noch eine Aufarbeitung jüdischer Legenden durch Rabbi Louis Ginzberg als Ergänzung zu folgender Bibelstelle aus 2. Könige 19: »Und in dieser Nacht fuhr aus der Engel des HERRN und schlug im Lager von Assyrien hundertfünfundachtzigtausend Mann. Und als man sich früh am Morgen aufmachte, siehe, da lag alles voller Leichen. So brach Sanherib, der König von Assyrien, auf und zog ab, kehrte um und blieb zu Ninive. Und als er anbetete im Haus seines Gottes Nisroch, erschlugen ihn mit dem Schwert seine Söhne Adrammelech und Sarezer, und sie entkamen ins Land Ararat. Und sein Sohn Asarhaddon wurde König an seiner statt.« (2. Könige 19,35–37)
In den »Legenden der Juden von Louis Ginzberg heißt es: »Auf seiner Rückkehr nach Assyrien fand Sanherib eine Holzplanke, die er als ein Götzenbild verehrte, denn sie war ein Teil der Arche, die Noah von der Sintflut rettete. Er versprach, dass er seine Söhne opfern würde, wenn seine nächsten Unternehmungen gelingen würden. Aber seine Söhne lauschten seinem Gelübde. Sie töteten ihren Vater und flohen nach Kardu, wo sie zahlreiche jüdische Gefangenen befreiten. Mit diesen zogen sie nach Jerusalem und wurden Proselyten (d.h. sie konvertierten zum Judentum). Die berühmten Gelehrten Shemaiah und Abtalion waren Nachkommen dieser beiden Söhne des Sanherib.«
Zwei Folgerungen ergeben sich aus diesem Text:
Die Legende vom Heiligen Jakob ist eng mit dem Berg Ararat verwoben. Im vierten Jahrhundert soll dieser Mann zum Berg der Sintflut gewandert sein, um die Arche Noah zu finden. Ein Engel Gottes habe ihn allerdings jedesmal, wenn er eingeschlafen ist, zurück zum Fuß des Berges gebracht, wo er dann wieder am Anfang seiner Klettertour aufgewacht sei. Jakob gab aber nicht auf und so gab ihm der Engel irgendwann aus Mitleid ein Stück Holz von der Arche.
Dieses Holz, eingefasst ihn einen vergoldeten Reliquienschrein, ist heute noch zu besichtigen. Eine genauere Untersuchung hat aber meines Wissens noch nicht stattgefunden. Das wertvolle Stück wird in der Kathedrale von Etschmiadsin aufbewahrt, 20 km westlich von der armenischen Hauptstadt Eriwan und etwa 50 km vom Berg Ararat entfernt.
Der Haken an der Sache ist nur, dass dieser Jakob der Bischof von Nisibis war. In der englischen Wikipedia heißt es (übersetzt): »Er war der erste Christ, der die Arche Noahs gesucht hat. Er behauptete, auf einem Berg, dem Cudi Dagh, ein Stück von ihr gefunden zu haben – in einer Region nahe Ararat, 70 Meilen von Nisibis entfernt.«
Einen weiteren Hinweis, dass es sich um den Cudi (Berg Kardu) handelte, gibt es hier: »Mor Augin ging daraufhin mit Mor Jakob von Nisibis zum Berg Kardu, wo die Arche Noah ans Land gegangen war. Dort errichteten sie ein Kloster und weihten es ein. Ein Engel zeigte ihnen ein Brett von der Arche Noah. Aus einem Teil dieses Bretts machte sich Mor Augin ein Kreuz und stellte es sich in sein Zimmer.« (Mor Augin, der heilige Eugenios; www.moraugin.com)
Auf Google Earth ist zu sehen, dass Nisibis tatsächlich nur 120 km vom Berg Cudi entfernt liegt.
Im Zusammenhang mit diesem Jakob lesen wir noch weitere interessante Dinge, z.B.: Die Legende des heiligen Schallita, des Apostels von Gordyene von ca. 330 n. Chr. »In Nisibis war damals Jacob Bischof, der mit Eugen und Schallita über den Bau einer Kirche in Nisibis berät. Jacob geht auf die Reise, um eine Kirche ›Beture Qardu‹, wo die Arche Noah‘s stehen geblieben, einzuweihen. Schallita begleitet ihn. Sie kommen zu einem Dorfe ›Sar-Dschudsch‹ am Fuß des Berges (Berg Cudi in arabisch) und dort befreit Schallita einen Knaben aus dem Rachen eines Drachen. Die Kirche wird eingeweiht und die frommen Männer kehren zurück, mit ihnen der gerettete Knabe, genannt ›Achi Merah‹, der Schüler des Schallita wird.«
Im Gegensatz zu dieser von mir neu entdeckten Einweihung der Kirche auf dem Cudi ist die spätere Zerstörung eines inzwischen zum nestorianischen Kloster ausgebauten Anwesens hinlänglich bekannt und wird in verschiedenen Quellen überliefert und zitiert. Im »Kloster der Arche« feierten die nestorianischen Christen immer wieder große Feste zur Ehre der Überlebenden der Sintflut.
Doch im Jahr 776 (einige wenige haben durch eine Unachtsamkeit 766, darunter Gertrude Bell) wurden Kloster und Kirche, zusammen mit einer Versammlung von Christen vernichtet. Und vielleicht ist damals die bis dahin noch sichtbar erhaltene Arche vollends vom Feuer verzehrt worden.
Die von allen zitierte Quelle ist Joseph Simonius Assemanns »Orientalische Bibliothek«, doch in der deutschen Zusammenfassung seiner Werke durch August Friederich Pfeiffer von 1776 fehlt diese Überlieferung und das Original konnte ich bisher nicht einsehen. In einer kommentierten englischen Koranausgabe von 1734 gibt George Sale die Stelle aus dem lateinischen Originalwerk Assemanns an, in der das Geschehnis des Jahres 776 beschrieben ist: Die Chronik des Jacobiten Patriarch Dionysii, Orientalische Bibliothek Teil 2, S. 113. In Pfeiffers deutscher Ausgabe findet sich im zweiten Abschnitt ab Seite 215 ein Kapitel über Dionysius I., einen jacobitischen Patriarchen seit dem Jahre 775. Darin stehen einige Informationen über ihn, aber die Geschichte mit dem abgebrannten Kloster ein Jahr danach hat Pfeiffer wohl nicht vom Original übernommen, bei seiner Akribie eigentlich nicht nachvollziehbar. Zwar verweist er hier (z.B. S. 218) auf die »Allgemeine Welthistorie«, trotzdem wird nicht klar, warum er das Ereignis nicht beschreibt.
In der schon zuvor zitierten Welthistorie heißt es hingegen: »Es war ehemals auf den carduischen Bergen ein berühmtes Kloster, welches das Kloster der Arche geheißen; allwo die Nestorianer auf eben demselben Platz jährlich ein Fest begangen, wo sie geglaubet, daß der Kasten geruhet habe. Allein, im Jahr Christi 776 wurde dieses Kloster samt der Kirche und einer zahlreichen darin befindlichen Versammlung vom Donner zerstöret. Seit welcher Zeit vermutlich das Ansehen dieser Überlieferung abgenommen, und einer andern Platz gemacht, die jetzt die Oberhand hat.« (Allgemeine Welthistorie, S. 232f)
Interessant ist, dass die Spuren, die in Google Earth auf dem Gipfel des Cudi zu erkennen sind, sich sehr gut dahingehend interpretieren lassen, dass dort oben ein großes Kloster in Form eines Schiffes gestanden sein könnte (Länge ca. 420 m), das die Überreste der Arche (Länge ca. 160 m) sogar in ihrer Ummauerung enthalten haben könnte. Sogar ein Kirchenschiff glaube ich unter den Umrissen zu erkennen. Die Ausrichtung dieser Kirche entspräche nicht der üblichen Ostung, sondern wäre annähernd exakt Richtung Jerusalem gerichtet.
Dass die syrische Überlieferung sich auf keinen Fall mit dem heutigen Berg Ararat zusammenbringen lässt, zeigt auch die syrische Bibelübersetzung »Peschitta«, die in der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien und auch in der Assyrischen Kirche des Ostens gebräuchlich ist: Sie berichtet in Genesis 8,4 nicht vom »Gebirge Ararat«, sondern von den »Bergen von Kardo« (http://www.aramaicpeshitta.com/OTtools/LamsaOT/1_genesis.htm).
In späterer Zeit hören wir fast nur noch aus islamischen Quellen vom Berg Cudi in Verbindung mit der Arche Noah. Zum Beispiel hier: »Von Jazirah Ibn Omar [Cizre] aus war der Jabal Cudi gegen Osten hin sichtbar, mit der Moschee des Noah auf seinem Gipfel.« (Guy Le Strange: The Lands of the eastern caliphate, 1905)
Al-Mas‘udi schreibt im 10. Jahrhundert: »Die Stelle an dem das Schiff gelandet ist – auf dem Gipfel dieses Berges – kann heute noch gesehen werden.« (zitiert bei Bill Crouse: Bible and Spade)
Claudius James Rich vermerkt im frühen 19. Jahrhundert: »Hussein Aga behauptete mir gegenüber, dass er mit seinen eigenen Augen die Überreste der Arche Noah gesehen hat. Er ging in ein christliches Dorf, von wo ein steiler Weg zum Gipfel anstieg, eine Stunde zu gehen. Dort oben sah er die Überreste eines großen Schiffs aus Holz, fast vollständig verrottet, mit einem Fuß [30 cm] langen Nägeln, die noch erhalten waren.« (zitiert bei Bill Crouse: Bible and Spade)
Wie schon Baumgarten erwähnte, vermute auch ich, dass mit der Zerstörung des Klosters und vielleicht sogar eines Großteils der bis dahin noch relativ intakten Arche der Pilgerstrom zum Berg Cudi jäh abgebrochen ist und in der Folge – zugleich auch mit der Ausbreitung des Islam – die Christen, vor allem die Armenier, auf ihrem Rückzug nach Norden die Traditionen von der Sintflut auf einen anderen Berg projiziert haben. Dieser Berg war viel höher, gewaltiger und wahrscheinlich schon in vorchristlicher Zeit ein heiliger Berg: Der Berg Ararat mit einer Höhe von über 5000 Metern. Die Araber drangen 640 nach Armenien vor und erstürmten im Oktober die Hauptstadt Dvin. Die Armenier wurden nach Norden gedrängt und haben vermutlich den Landeplatz der Arche einfach »mitgenommen«.
Zu Teil 4: SPEKULATION darüber hinaus