Eine Tontafel so groß wie ein Smartphone enthält in Keilschrift Angaben zum Bau der Arche Noah. Das hört sich verrückt an, ist aber tatsächlich wahr. Ein neues Buch des Keilschrift-Experten Irving Finkel trägt den Titel »The Ark before Noah« – auf deutsch: »Die Arche vor Noah«. Ein provokanter Titel, der schon das Hauptproblem des Werkes vor Augen führt: Diese Keilschrift-Tafel wird auf die Zeit um 1700 v. Chr. datiert, dagegen erfolgte die Abfassung der Bibel laut Finkel erst während oder gar nach der babylonischen Gefangenschaft ab 587 v. Chr. Nach der akademischen Lehrmeinung ist daher die historische Glaubwürdigkeit der Bibel nicht besonders hoch.
Zwar führt Irving Finkel auch kurz Abrahams Aufenthalt in Ur als Möglichkeit eines gemeinsamen Ursprung der biblischen und außerbiblischen Sintfluttradition vor Augen, verwirft diese dann aber, da seiner Meinung nach »die textlichen Übereinstimmungen zwischen der Tafel 11 des Gilgamesch-Epos und der Genesis zu groß seien, um zwei lange, unabhängige Traditionslinien zu repräsentieren«. [1] Das berühmte Gilgamesch-Epos, das auf der erwähnten Tafel in der Tat eine sehr stark an die Bibel erinnernde Sintflut-Geschichte enthält, ist um ungefähr ein Jahrtausend jünger als andere altbabylonische Flutgeschichten. Da Finkel eine möglicherweise mündliche Überlieferung annimmt und nicht von einem tatsächlichen Ereignis ausgeht, unterstellt er, dass die hebräische Version in einer »sehr unterschiedlichen Komposition geendet haben würde.« [2]
Insgesamt betont Finkel sehr stark die Abhängigkeit der biblischen Version von angeblich viel älteren babylonischen Traditionen. Seine Untersuchung betreffe die Überlieferung der Geschichte und er findet: »Ein solcher Ansatz berechtigt den Forscher, die Frage ganz zu vermeiden: ›Gab es wirklich eine Sintflut?‹«. Er geht kurz auf den Fund einer Flutschicht in Ur durch Leonard Woolley in den 1920er Jahren ein, merkt dann aber an, die Suche nach einer Flut sei heute eher eine geologische als eine archäologische Aufgabe. Hier weiter nachzuforschen liege weit außerhalb des Rahmens seines Buches.
Irving Finkel geht dann sehr ausführlich auf die drei babylonischen Überlieferungs-Ströme ein, die sich hauptsächlich durch die drei verschiedenen Namen »Noahs« unterscheiden: Atrahasis, Ziusudra und Utnapischtim. Seine Ausführungen zu diesen Quellen sind fachlich äußerst fundiert und hochinteressant.
Er geht außerdem der Frage nach, wo sich die Arche-Noah-Geschichte in den unterschiedlichen Traditionen abgespielt haben soll und beschreibt mit dem berühmten Ararat, dem durch die Assyrer überlieferten Berg Nisir und dem Berg Cudi (den meine eigenen Forschungen behandeln) die wichtigsten Landeorte aus der Überlieferung. Als spannende Neuheit bringt er die sogenannte »Babylonische Weltkarte« in die Diskussion ein: Er erzählt eine faszinierende Anekdote über die Auffindung eines zusätzlichen Bruchstücks dieses Dokuments, das er als Mitarbeiter im Britischen Museum in die Hand bekam. So kann er – allerdings einigermaßen spekulativ – den Ort der Archelandung auf dieser Karte festmachen: Jenseits des Landes Ararat (»Urartu«). Auch diesbezüglich gehen seine Schlussfolgerung natürlich nicht von einer wirklich existierenden Arche aus.
Welche interessanten Erkenntnisse bringt nun aber die neu entdeckte Arche-Tontafel?
1. Die Arche hatte möglicherweise einen kreisförmigen Grundriss (!).
2. Ausführlich wird die Abdichtung der Holzkostruktion mit Bitumen beschrieben.
3. Die Tafel enthält den einzigen Hinweis in der babylonischen Überlieferung, dass von jeder Tierart ein Paar (»je zwei«) an Bord der Arche kam.
Die letzten beiden Punkte sind aus der Bibel bekannt und bestätigen gewissermaßen ihre Glaubwürdigkeit. Aber was ist mit der kreisförmigen Arche? Ich hege keinerlei Zweifel daran, dass Finkel das Mögliche aus den eingravierten Keilschriftzeichen herausgelesen hat (die Tafel ist zum Teil beschädigt), er gibt das Vorgehen und den genauen Wortlaut der Entzifferung im Anhang detailliert wieder. Dort steht: »Entwerfe das Schiff, dass du bauen wirst, auf einem kreisförmigen Plan.« [3]
Der Keilschrift-Experte vergleicht die Bauweise mit babylonischen Schiffchen, die »Coracle« genannt werden, freilich aber in viel kleineren Dimensionen gebaut wurden. Da er nicht von einer realen Begebenheit ausgeht, sind die konstruktiven Probleme eines riesigen »Coracle« aber wohl kein größeres Problem für ihn. Erwähnenswert ist allerdings: Die Grundfläche der runden Arche stimmt fast exakt mit den Angaben der Bibel überein und zugleich mit den Maßen im Gilgamesch-Epos, dort wird aber eine würfelförmige Arche beschrieben.
Welche Form war nun die ursprüngliche? Finkel geht natürlich von seiner säkularen Sichtweise aus und behauptet, die in Babylon gefangenen Bibelverfasser hätten die Form von dort angetroffenen länglichen Booten abgeleitet. Gehen wir allerdings – wofür es sehr gewichtige Argumente gibt [4] – von einer Abfassung der Genesis durch Mose aus und davon, dass das Ereignis tatsächlich stattgefunden hat, ergibt sich ein anderes Bild.
Prof. Dr. Werner Gitt hat umfangreiche Berechnungen zur Schwimmstabilität der biblischen Arche-Version vorgenommen und kommt zum Ergebnis, dass die in 1. Mose 6,15 die optimale Version darstellt: »Mit Hilfe mathematischer Methoden und Einsatz von Computern können wir heute nachweisen, dass die in der Bibel genannten Abmessungen der Arche B und H die besten sind, die man aufgrund technischer Überlegungen wählen müsste.« [5]
Dr. Werner Papke hat ausgeführt, dass die Form im Gilgamesch-Epos eventuell auf astrologische Erwägungen zurückgeht [6], daher könnte es ebenso möglich sein, dass auch die kreisförmige Version auf eine Abwandlung des in der Bibel überlieferten Originals zurückgeht. Es sei an dieser Stelle nur nebenbei erwähnt, dass die Datierung auf 1700 v. Chr. durchaus anhand der revidierten Chronologie zeitlich sehr nahe an der Zeit Mose sein könnte. Wenn daher nur Jahrzehnte oder höchstens wenige Jahrhunderte zwischen der Entstehung der Arche-Tontafel und der Niederschrift der Genesis durch Mose liegen [7], anstatt wie Irving Finkel annimmt über 1000 Jahre, relativiert sich seine Behauptung »Die Arche vor Noah« sehr deutlich.
Insgesamt enthält das Buch also ausführliche historische Fakten, die Wiedergabe einer Vielzahl relevanter Quellen sowie einzigartiges neues Material wie die Arche-Tontafel und auch eine »aktualisierte« Fassung der Babylon-Weltkarte. Es ist nicht davon auszugehen, dass es sich bei dem Fund um eine Fälschung handelt, obwohl die Arche-Tafel aus einer privaten Sammlung stammt und ihre ursprüngliche Herkunft im Dunkeln liegt. Der Keilschrift-Experte Irving Finkel wäre wohl einer der letzten, der sich von einer auch noch so brillanten Fälschung in die Irre führen ließe. Aber seine faszinierenden Fundstücke werden leider zu undifferenziert im Rahmen einer säkularen und bibelkritischen Weltsicht gedeutet, die eine Geschichtlichkeit der Ereignisse kaum in Betracht zieht und die Abfassung der Bibel in das sechste Jahrhundert und sogar die Zeit danach verbannt. Daraus ergeben sich Erklärungen, die in eine bestimmte Richtung führen: weg von der Bibel als Wort Gottes, hin zu einer Arche, die viel älter sei als Noah.
Die Bedeutung der neuen Erkenntnisse aus einer Sicht, die auf die historische Zuverlässigkeit der Bibel vertraut, stellt eine Herausforderung dar. Einige Fragen sind offen: Wie kam es zu den unterschiedlichen Vorstellungen bezüglich der Form der Arche? Oder wie ist die von Finkel ausgeführte Parallele zwischen Mose und Sargon zu erklären, die beide von ihren Müttern in einer – sich im Wortsinn entsprechenden – »Miniatur-Arche« ausgesetzt wurden?
Diesen Fragen steht aber eine weit wichtigere Erkenntnis gegenüber: Die Geschichte von der Sintflut und des Mannes, der sie mit seinen Angehörigen in einem riesigen Schiff überlebt hat, ist im Altertum so gut und übereinstimmend bezeugt, dass es mir schwerfällt zu glauben, es handle sich dabei nur um eine Legende. Der Archäologe Dr. Peter van der Veen sagte in einem Interview mit dem Medienmagazin »pro«: »Es gibt zahlreiche Berichte von der Arche und der Flut. Warum sollten wir daran zweifeln? Ich lasse den biblischen Text erst einmal als historische Quelle stehen, bis ich etwas finde, was dagegen spricht.« [8]
Wir finden immer mehr, was dafür spricht!
Timo Roller
[1] Irving Finkel: »The Ark before Noah«, S. 224: »In my opinion the textual parallels between Gilgamesh XI and the Genesis account are too close to represent two long, independent streams.«
[2] Ebd., »… would have ended up as a very different construction.«
[3] Ebd., S. 358f: »Draw out the boat that you will make on a circular plan.« (Auch die Transkription der Keilschrift steht mit dabei.)
[4] Siehe »Noah und der kleine Hobbit« unter der Zwischenüberschrift »Wer schrieb die Mose-Bücher?« (www.noah2014.com/html/130301_noah_mythos_de.html)
[5] Werner Gitt: »Das sonderbarste Schiff der Weltgeschichte«, S. 47 (http://bruderhand.de/download/Werner_Gitt/pdf/deutsch/Das_sonderbarste_Schiff_der_Weltgeschichte.pdf).
[6] Werner Papke: »Die geheime Botschaft des Gilgamesch«
[7] Es ist durchaus möglich, dass Mose das Buch Genesis aus noch älteren schriftlichen Vorlagen, evtl. sogar Keilschrifttexten, zusammenstellte.
[8] »Bauanleitung für Arche Noah entdeckt?« (www.pro-medienmagazin.de/kultur/buecher/detailansicht/aktuell/bauanleitung-fuer-arche-noah-entdeckt/)