Am Montag, 8. April 2024 ist Otmar Reiter aus Niederaichbach bei Landshut in Bayern verstorben. Ihm hat Wikipedia, hat das Internet – ja, eigentlich die heutige Menschheit – das hochwertigste Abbild des Assyrerkönigs Sanherib zu verdanken. Sanherib lebte vor 2700 Jahren, ließ sich »König des Universums« nennen und regierte in Ninive im »Palast ohnegleichen«. 701 v. Chr. belagerte er mit einer riesigen Armee Jerusalem, das er aber nicht wie zwölf Jahre später Babylon erobern konnte.
Zwar steht unter dem Foto »Timo Roller«, denn ich war es, der vor einigen Jahren einen Reliefabguss von Sanherib fotografiert und für Wikipedia hochgeladen hat – doch ohne den unermüdlichen Einsatz von Otmar Reiter würde es diesen Abguss und damit auch dieses Foto nicht geben!
Es war im Jahr 1983, als er mit seiner Abenteurergruppe um den Expeditionsleiter Hans Thoma (1924–2017) am Cudi Dagh im selten bereisten Südosten der Türkei ankam. Sie erreichten damals den Gipfel dieses Berges, auf dem die Tradition den Landeplatz der Arche Noah vermutet. Als Pilgerstätte kann der Ort nur selten besucht werden, denn er ist umstritten und umkämpft, neuerdings gibt es dort eine Einrichtung des türkischen Militärs. Doch für Einheimische ist der Cudi Dagh bis heute ein heiliger Ort.
Seine Reisegefährten Hans Thoma und dessen Sohn Christoph haben faszinierende Artikel und Bücher geschrieben, stimmungsvolle und aus historischer Sicht überaus wertvolle Fotografien angefertigt. Doch im Hintergrund war Otmar Reiter eine treibende Kraft, dass die Gruppe sich damals die Zeit nahm, von einem nur schwer zugänglichen Relief des assyrischen Königs Sanherib am Fuße dieses Bergs einen Silikonabdruck zu machen. Der König verewigte sich dort gleich durch mehrere Reliefs, ein Beweis dafür, dass dieser Cudi Dagh auch damals schon ein heiliger Platz gewesen sein muss.
Sein Reisepartner Christoph Thoma schrieb 1989 in seinem Buch »Gute Tage unter dem Halbmond«: »Und schließlich gelingt es Hans und Otmar, die Offiziere zu überreden. Trotz ihrer Angst um unsere Sicherheit bekommen wir die Genehmigung, am nächsten Tag wiederzukommen. Wir wollen die einzigartige Gelegenheit nutzen, die von verschiedenen Wissenschaftlern beschriebenen Assyrerkönige in den Felsnischen erstmals zu fotografieren, zu vermessen und – wenn's klappt – eine Abgußform aus Silikonkautschuk herzustellen. […] Der nächste Vormittag bringt uns den Erfolg von Şach. Der ›König vom Dschudi Dağ‹ hängt jetzt als Replikat aus Zahnarztgips in Deutschland im Museum. Otmar freut sich wie ein Kind, daß dieser Abklatsch reibungslos funktioniert hat.« [S. 178f]
König Sanherib am Arche-Noah-Berg – wohl kein Zufall: Jüdische Legenden behaupten, Sanherib hätte eine Planke des biblischen Schiffs von hier mitgenommen in seinen Palast nach Ninive. Nur ganz spärliche Verbindungen gibt es in keilschriftlichen Überlieferungen zwischen Sanherib und der Arche, der britische Gelehrte Irving Finkel führt einen Zauberspruch aus der Zeit um 700 v.Chr. an, der erwähnt, dass »keine Arche auf einem hohen Berg gefunden« werden konnte. Finkel resümiert: Wenn diese Möglichkeit bekannt war, muss jemand nach dieser Arche gesucht haben« [siehe: I. Finkel: »The Ark before Noah«, S. 291].
Zurück in Deutschland fertigten Otmar Reiter und seine Kollegen Gipsabgüsse ihrer Silikonformen an – neben Sanherib hatten sie noch weitere assyrische Könige in der Osttürkei »gesammelt«. In Landshut und Niederaichbach gibt es seither Kopien dieser kunstvollen Reliefs, die kaum jemand je im Original zu Gesicht bekommen hat. Auch im altorientalischen Institut in Tübingen habe ich Otmar Reiters »Sanherib« gesehen, ein Exemplar hat er sogar einem Freund in Cizre geschickt, für sein Heimatmuseum am Fuße des Cudi Dagh.
Und schließlich fertigte er 2011 für mich eine weitere hervorragende Kopie an. Mit meiner Tochter fuhr ich nach Niederaichbach, um das wertvolle Stück abzuholen. Einen »Tiglatpileser« (regierte einige Jahrhunderte vor Sanherib) vom Tigristunnel bekam ich von ihm als Dreingabe. Die assyrischen Herrscher hängen seither im Besprechungsraum meines Büros. Und so entstand das Bild, das um die Welt ging, über die deutschsprache Wikipedia, die englische und einige weitere. In Büchern und Artikeln ist es seither abgedruckt worden, bei Amazon kann man sogar eine Tasse mit dem Motiv bestellen.
Drei weitere Male traf ich Otmar Reiter, das erste Kennenlernen war bereits 2009, damals entstanden die Bilder und Informationen für meinen Beitrag »Die deutschen Erforscher des Archebergs«, den ich beim Cudi-Symposium in Sirnak (Türkei) vortragen durfte und der auch einige Buchkapitel in »Das Rätsel der Arche Noah« wiedergibt.
Dann traf ich mich noch einmal mit Hans Thoma und Otmar Reiter, um ihnen das 2014 erschienene Buch zu überreichen. Und 2017 dann an Hans Thomas Beerdigung. Zwischendrin hatten wir einen regen Austausch und Otmar Reiter habe ich es insbesondere zu verdanken, dass ich wirklich viele Informationen bekam über die Türkeitouren an teilweise sehr besondere Orte, dazu archäologische Infos, Relief-Dokumentationen, aktuelle Neuigkeiten aus dem umkämpften Südosten, aber auch Lokalgeschichtliches aus Reiters Heimat wie über die berühmte Landshuter Hochzeit. Oder über seine Skitouren auf den Großen Arber im Bayerischen Wald.
Einen großen Stapel DIN-A4-Briefe habe ich im Laufe der Jahre von Otmar Reiter gesammelt, viel Mühe hat er sich immer wieder gegeben, mir wichtige Informationen zusammenzustellen. Noch im Dezember 2023 hat er von einer Arber-Skitour berichtet und mir »beste Wünsche zum Jahreswechsel« geschickt. So gerne hätte ich ihn mal wieder besucht, doch nun hat mich die Nachricht von seinem Tod überrascht und ich bedauere, dass ich nicht schon früher ein Wiedersehen anvisiert habe.
Auch per Mail haben wir uns immer wieder ausgetauscht, ein heißes Thema war ein anderes Relief, von dem es keinen Abdruck gibt und auch nur sehr wenige brauchbare Fotos. Auf ein kleines Buch mit dem Titel »Die neuassyrischen Felsreliefs in der Türkei« hat mich Otmar Reiter vor vielen Jahren aufmerksam gemacht. Eine detailgetreue Zeichnung des Reliefs hat Reiter selbst angefertigt. Es ist das einzige Relief am Berg Cudi, das nicht Sanherib darstellt, sondern einen anderen Herrscher. Aber wen? Darüber haben wir diskutiert, geforscht, uns mit Fachleuten beraten und sind immer wieder einen kleinen Schritt weitergekommen.
Aber leider ist das Geheimnis dieses »unbekannten Königs« noch nicht gelüftet, auch wenn ich inzwischen für einen weiteren (nur virtuellen) Vortrag für das Cudi-Symposium 2021 Vermutungen zusammengefasst habe. Schade, dass wir endgültige Gewissheit nicht gemeinsam erreichen konnten, eine Inschrift am Relief birgt möglicherweise noch weitere Erkenntnisse in der Zukunft. Sollte es eines Tages doch noch gelingen, den »unbekannten König« zweifelsfrei zu identifizieren, wird die Menschheit wohl wichtige Erkenntnisse über einen weiteren uralten Herrscher ebenso auch teilweise Otmar Reiter zu verdanken haben.
Ich werde den Austausch mit ihm und seine Briefe vermissen und möchte den Angehörigen meine herzliche Anteilnahme aussprechen.